Sturm* wird der Schwerpunkt vom progressiven Flügel aut den reaktionären verschoben.“ Manche Repliken der Gräfin Amely oder des Generals Bamme aber, aus denen „ ... etwas völlig anderes hervorgeht, entsprechen keineswegs dem konservativen preußischen Epochenverständnis, doch vermögen sie die Konzeption des Romans nicht von Grund auf zu ändern, sondern sind nur Ausdruck seiner Widersprüchlichkeit und Ungleichartigkeit“.
Besondere Bedeutung mißt Fradkin der Novelle „Schach von Wuthenow“ bei, da sie „ ... reife künstlerische Meisterschaft mit Zügen einer neuen demokratischen Weltanschauung in sich vereinigt“. In diesem Werk rechnete der Dichter endgültig mit den altpreußischen konservativen Idealen, denen er einst huldigte, ab. Die Geschichte des Untergangs von Schach ist die vom symbolischen Gehalt erfüllte Vorgeschichte des Untergangs des alten Preußen.
Der Hauptkonflikt in „Schach von Wuthenow“ ist „der Zusammenstoß des Individuums mit der despotischen Macht weltlicher Konventionen, mit dem Joch der Gesellschaftsmoral und der verlogenen Ehrbegriffe“. Als roter Faden geht dies durch alle späteren Werke Fontanes. Fradkin legt das allen Romanen zugrundeliegende Sujet dar: Held oder Heldin sind gewöhnlich keine starken Naturen, keine Kämpfer, sondern Durchschnittsmenschen, die ganz im Geiste der Anschauungen ihrer Umwelt erzogen sind. Da sie ihren Gefühlen folgen, geraten sie in Widerspruch zu den geschriebenen und ungeschriebenen Gesetzen ihres Standes; eine grausame Gesellschaftsordnung gewinnt Oberhand über das Aufbegehren der Helden.
Fradkin zeigt die kritischen Tendenzen in Fontanes „Berliner“ Romanen auf und vermerkt u. a. den „behutsamen“ Realismus und den ungerechtfertigten glücklichen Ausgang in „L’Adultera“. Er ist der Meinung, daß in diesem Roman nicht nur Melanie, sondern auch van der Straaten, Gryczinski, Duquede und Reiff von einer künstlerischen Weiterentwicklung des Dichters zeugen. „Cecile“ wird gewissermaßen als ein Bindeglied zwischen „L’Adultera“ und „Effi Briest“ angesehen. Fradkin übernimmt Karl Wandreys Terminologie, wenn er „L’Adultera“ und „Cecile“ weltliche, „Irrungen — Wirrungen“ urtd „Stine“ soziale Erzählungen nennt. In den beiden letzten sei „... die Haupttriebkraft des Konflikts die soziale Ungerechtigkeit“.
Als zweifelloses Verdienst des Romans „Irrungen — Wirrungen“ wird das Interesse für den „vierten Stand“, die moralische Überlegenheit der plebejischen Gestalten über die Vertreter der herrschenden Klassen und die kritische Einstellung zur bürgerlichen Gesellschaft hervorgehoben. Doch vertuscht Fradkin auch die schwachen Seiten nicht: der Roman lasse „die Vorstellung aufkommen, als sei die Bewahrung von Standesunterschieden eine Notwendigkeit und jeglicher Anschlag auf die Traditionen und moralischen Grundlagen des herrschenden Verhältnisses zwischen Hoch und Niedrig schädlich“.
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