Der charakteristischste Zug von „Stine“ ist nach Meinung Fradkins die kritische Darstellung des Adels: „ ... der oberste Stand des deutschen Imperiums wird dem Leser in wenig repräsentabler Form vorgeführt.“ Die moralische Überlegenheit Pauline Pittelkows, dieser Vertreterin des Plebejertums, über die Angehörigen der privilegierten Schicht sei eindeutig.
Versöhnlerische Tendenzen findet Fradkin in der Erzählung „Mathilde Möhring“. Diese zeigen sich „ ... in der fehlenden Abrundung des Konflikts sowie in der künstlich gebremsten Handlung, die in einem Augenblick vorgenommen wird, als eine logische Weiterentwicklung unausbleiblich zu einef satirisch-grotesken Situation führen müßte, wie wir sie später bei Heinrich, Mann, Stemheim und anderen finden“. Die Sozialkritik wird von Fontane buchstäblich an der Grenze der Satire erstickt, der Tod des Helden läßt die am Ende der Erzählung auftauchenden sozialen Probleme nicht ausreifen.
Fradkin unterstreicht die antibürgerliche Richtung des Romans „Frau Jenny Treibei“, den er zu den besten Werken Fontanes zählt. Fontane greift hier das Eindringen des bürgerlichen Kaufmanns in die Welt der Politik auf. Herr Treibei trägt zwar die Maske eines uneigennützigen Kämpfers für konservative, monarchistische Ideen, in Wirklichkeit aber ist ihm alles gleichgültig mit Ausnahme seines Vorteils und seines Verdienstes. Die Charakterzeichnung des Ehepaares Treibei basiert auf der mangelnden Übereinstimmung von Sein und Scheinen. Der Welt der Händler steht Willibald Schmidt, seine Freunde und Hausgenossen, schließlich auch Corinna, gegenüber. Fradkin ist der richtigen Ansicht, daß der alte Professor, dem Fontane viel von seinem eigenen Ideengut, seinen Gewohnheiten und Charakterzügen mitgab, vor allem „ ... ein Räsonneur aber kein Kämpfer ist; er ist voller Ironie, aber nicht voller Zorn,i der zu entscheidendem Handeln aufrufen würde“.
Die Darstellung des Treibelschen Ehepaares entbehrt völlig der Sympathie des Dichters; in diesem Roman überwiegen satirische Motive, während in den „Poggenpuhls“ Fontane zu leichterem Humor neigt. Fontanes Zwiespältigkeit in der Beurteilung des Adels zeigt sich in der letztgenannten Erzählung deutlich in der Gestalt des Generals von Poggenpuhl. Fradkin bemerkt in diesem Zusammenhang: „ ... wie Balzac hat auch Fontane mit realistischer Nüchternheit in seiner Erzählung die hoffnungslose Divergenz des konservativen Adels mit der Zeit und seine historische Überlebtheit sowie die Unmöglichkeit einer Wiederkehr der alten feudalen Ordnung gezeigt.“ Und doch nimmt der Dichter den Poggenpuhls nicht allen Nimbus; in schnellem Tempo führt er die Erzählung einem Kompromiß entgegen: einem glücklichen Ausgang, der einen privaten und zufälligen Charakter hat. Nichtsdestoweniger vermittelt das Statische der Gestalten, die „Ereignislosigkeit“ des Sujets ein „ ... absolut eindeutiges Bild der perspektivelosen, mit jedem Tag mehr in die Vergangenheit versinkenden Adelswelt“.
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