Besondere Aufmerksamkeit wendet Fradkin der Tante Schmolke in „Frau Jenny Treibei“ und der Dienerin Friederike in den „Poggenpuhls“ zu. Aus der Schmolke spricht das gesunde Denken und die ehrliche Moral der einfachen Leute aus dem Volk; der Friederike wird anläßlich ihres täglichen Kampfes mit dem Bild, das den „Hochkirchner“ darstellt und das beim Staubwischen so leicht herunterfällt, die Sentenz in den Mund gelegt: „...es sitzt nich und sitzt nich“, was als Kommentar zu den überlebten Idealen der Welt der Junker verstanden werden darf. „Effi Briest“ hält Fradkin nicht nur für den Gipfelpunkt in Fontanes Schaffen, sondern auch „für das größte Werk des deutschen Realismus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts“. Das Sujet, seine Quellen, die Gestalt Elfis und Instettens werden analysiert. Instetten wird bei der Duellforderung „nur von der Besorgnis um seine Karriere und dem Gerede der großen Welt geleitet. Nur aus diesem Grund unterwirft er sich dem offiziellen Ehrenkodex, der fordert, daß Beleidigung durch Blut gesühnt werde.“ Effi wird von der Gesellschaft „nicht wegen ihrer ,Sünde“ verurteilt, sondern wegen ihrer Unvorsichtigkeit, ihres Mangels an List; doch gerade darin kommt ihre moralische Sauberkeit zum Ausdruck“. Fontane deckt in diesem Roman die falschen Moralbegriffe und die verlogenen Vorstellungen von Pflicht und Schuld auf. In der Darstellung der Landjunker ist auch nicht „der kleinste Stempel von Sympathie oder Idealisierung durch den Autor“ zu spüren. Auch in diesem Roman wird das schon traditionelle Thema der Überlegenheit der plebejischen Figuren in der Gestalt der Roswitha fortgeführt.
An den Erinnerungsbüchem „Meine Kinderjahre“ und „Von Zwanzig bis Dreißig“ begrüßt Fradkin die mutigen und offenen Aussagen des alten Schriftstellers in Bezug auf die Revolution von 1848 sowie seine Überlegungen über den Volksaufstand und eine eventuelle neue Revolution. Auch den unvollendeten Roman „Die Likedeeler“, der um 1400 spielt, hält er für einen Ausdruck des starken Interesses des Dichters am Volksaufstand und an der Möglichkeit einer sozialen Revolution. Die Helden sollten echte Volksvertreter, Kommunisten — „Gleichteiler“, sein.
In seinem letzten Roman „Der Stechlin“ wollte Fontane — Fradkins Meinung nach — „dem Adel Vorhalten, wie er sein müßte und wie er ist“. In künstlerischer Hinsicht hält er ihn nicht nur „Effi Briest“ unterlegen, sondern auch vielen anderen Romanen Fontanes.
Im ganzen genommen sieht Fradkin das große Verdienst Fontanes darin, daß „seine besten Werke ein hervorragendes Bild der alten Welt enthalten, — einer Welt, die dem unvermeidlichen Untergang entgegengeht. In diesem Sinne verkörpert Fontane den Übergang vom alten kritischen Realismus zum Realismus des 20. Jahrhunderts.“ 38
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