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Der kleine Luftkurort Erkner hatte seinerzeit eine Bevölkerung, die sich vorwiegend aus Ackerbürgern, Fischern, Schiffbauern und Rentiers zusammensetzte, wobei letztere kaum eine Rolle spielten. Hauptmann sagt, er machte sich „mit den kleinen Leuten bekannt, Förstern, Fischern. Kätnerfamilien und Bahnwärtern“, er unterhielt sich „mit den Arbeitern einer nahen chemischen Fabrik über ihre Leiden, Freuden und Hoffnungen und fand hier, in nächster Nähe Berlins ... ein Menschenwesen, das sich seit einem halben Jahrtausend und länger unverändert erhalten hatte“. 0
Auf langen Spaziergängen hate er genügend Gelegenheit, diese Menschen zu beobachten, ihre Lebensgewohnheiten aufmerksam zu studieren, und, dank seiner „Notizbuch-Methode“, auch ihre Sprache für den literarischen Gebrauch festzuhalten. So ist es verständlich, daß schon die literarischen Gestalten seiner ersten Erkneraner Werke in jedem Wort und in jeder Bewegung lebenswahr, unverwechselbar in ihren spezifischen Eigenarten und Lebensgewohnheiten gezeichnet sind. Das war zunächst zweifellos ganz im Sinne der Forderungen der naturalistischen Literaturtheorie, geht aber zugleich weit darüber hinaus. Denn nidit die Äußerlichkeiten dieser dem Leben entnommenen Gestalten und ihrer Umwelt sind für Hauptmann entscheidend, sondern ihm liegt die Gestaltung der inneren Konflikte, Zweifel, Sorgen, Nöte und Kämpfe dieser Menschen am Herzen. So kommt es, daß schon die erste Novelle „Fasching“ ein kleines Meisterwerk konfliktgeladener Personendarstellung ist. Den Stoff entnahm Hauptmann der Wirklichkeit: Der Tod des Erkneraner Schiffbaumeisters Eduard Zieb (Segelmacher Kielblock), seiner Frau und seines Kindes am 13. 2. 1887 im Flakensee. Mit großem Geschick führt der 25jährige Dichter den Leser zunächst in die ausgelassenen Faschingsvergnügungen Erkneraner und Woltersdorfer Einwohner, um dann im Verlauf der weiteren Handlung blitzartig erregende Momente aufleuch- ten zu lassen, die zeigen, mit welch zwingender Notwendigkeit die Katastrophe herannaht. Der Segelmacher Kielblock — und das ist wieder ein typisch naturalistisches Element — wird mit unerbittlicher Folgerichtigkeit in die scheinbar vorgezeichneten Bahnen seines Schicksals hineingezwungen. Diese Novelle wirkt nicht zuletzt aber deshalb so unmittelbar und überzeugend, weil hier ein realistisches Menschenschicksal, trotz zuweilen stark naturalistischer Prägung, nicht im luftleeren, unverbindlichen Raum angesiedelt ist, sondern weil konkrete gesellschaftliche Verhältnisse und konkretes Landschaftserlebnis, gestaltet durch sprachliche Meisterschaft, ein Stück Lebenswahrheit und -Problematik entstehen ließen.
1888 erschien in der Zeitschrift „Die Gesellschaft“ die zweite Novelle Hauptmanns, „Bahnwärter Thiel“. Hauptmann las sie seinen Freunden in Erkner vor, als Hauptmanns die Geburt ihres zweiten Sohnes Eckart feierten. Die Freunde anerkannten: hier ist ein wirklicher Dichter am Werk.
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