Heft 
(1975) 22
Seite
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Immer im Bemühen, Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, pflegte Fontane eine Aufführung ein zweites Mal zu besuchen, wenn ihm Zweifel an der Richtigkeit seines ersten Eindruckes gekommen waren oder von anderer Seite an ihn herangetragen wurden. Ein treffendes Beispiel für seine Bereitschaft, berechtigte Interessen zu wahren und Äußerungen zu überprüfen, bildet seine zweite Kritik der Erstaufführung von Henrik IbsensFrau vom Meere 1889 im Königlichen Schauspielhaus, von der noch zu sprechen sein wird.

Fontanes innerste Überzeugung, daß dieKunst mehr Wahrheit... als das Leben selber..zu gewähren habe und seine Forderung nach Ver­deutlichung dieser Wahrheit, nach unmittelbarer natürlicher Wirkung und echter Kraft der Gestaltung, stehen leitmotivisch über Wertung und Wirkung seiner Rezensionen. Trotz aller strengen Maßstäbe, die er an seine und der Künstler Aufgabe legte, war er sich durchaus bewußt, daß die Leserschaft derKöniglich privilegierten Berlinischen Zeitung von Staats- und gelehrten Sachen im Berliner Jargon kurzTante Voss genannt von seiner journalistischen Tätigkeit neben Urteil und Unterrichtung auch Amüsement und Zerstreuung erwartete.

Unseren Kritiken, neben unserer amtlichen Lord-Oberrichterschaft, auch noch ein außeramtliches, unterhaltliches Element zu geben, ist wenig­stens unser Bestreben. 8

Die Verbindung von ernsthafter kritischer Wertung und geistvoll-iro­nischem Plauderton machen FontanesCauserien über Theater 9 zu einem Werk, das unabhängig von seiner Aktualität, über seinen Zeitwert hinaus, in seiner Frische und Lebendigkeit eine unerschöpfliche Quelle des Vergnügens und der Bereicherung für jeden Theaterbegeisterten und für den literarisch interessierten Leser bildet. Fontane war niemals derTheaterfremdling, wie Spötter seine Initialen Th. F. deuteten, mit denen er seine Kritiken zu unterzeichnen pflegte, im Gegenteil, seine besondere kritische Begabung, die im Laufe der Jahre immer deutlicher in seinen Rezensionen zu Tage tritt, machen ihn mit seinen profunden Kenntnissen, seiner Originalität und seinem unverwechselbaren Stil, zu einer einmaligen Erscheinung in der Geschichte der Theaterkritik. Die Unbeirrbarkeit seiner Meinung und seine klare Stellungnahme, die zwar Irrtum und Berichtigung einschlossen, aber nie gegen die Über­zeugung ihres Verfassers geäußert wurden, führte Fontane selbst als das Plus seiner Theaterkritiken ins Treffen, als er. in einem Brief 1891 an seine Tochter schrieb:Ich habe mich nie für einen großen Kritiker gehalten ..., habe das auch immer ausgesprochen. Aber doch muß ich für natürliche Menschen mit meinen Schreibereien ein wahres Labsal gewesen sein, weil jeder die Antwort auf die Frage ,weiß oder schwarz 1 , ,Gold oder Blech 1 daraus ersehen konnte..." 10

In die KategorieBlech gehörten zu Fontanes Bedauern die meisten der im Königlichen Schauspielhaus stattfindenden Gastspiele. 11 , Diese brachten oft Darsteller auf die Szene, die zwar in der Enge ihrer heimat­lichen Provinzbühnen als erste Kräfte angesehen wurden, diesen Titel

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