Heft 
(1975) 22
Seite
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In sein kritisches Resümee der fast beendigten Spielzeit schloß Fontane auch die gastierenden Schauspieler ein:Wir haben, seit Jahresfrist, mit allen Einheimischen Glück gehabt, aber mit dem Fremden (wohin ich auch die Gäste rechne) nicht. Es ist nötig, auf diesen Sach­verhalt ... hinzuweisen ... 20

In Anbetracht dieser Situation und bei Kenntnis der verständlichen Skepsis Fontanes angesichts von Gastspielen, überrascht der enthu­siastische Beifall, mit dem er zwei Wochen später die junge Paula Conrad vom Stadttheater in Brünn, dem heutigen Brno, als Gast auf der Bühne des Königlichen Schauspielhauses willkommen hieß.

Auf dem Theaterzettel standDie Grille 21 Paula Conrad spielte darin die Rolle der Fanchon Vivieux, genannt Grille eines jener viel­gespielten Bühnenwerke der Charlotte Birch-Pfeiffer 22 , die dem Ge­schmack der Zuschauer nach oberflächlicher Unterhaltung mit Herz- Schmerz-Effekten und dem Verlangen der Schauspieler nach einem Höchstmaß an Publikumswirksamkeit ihrer Rollen in besonderer Weise entgegenkamen. Die Birch-Pfeiffer, selbst Schauspielerin, war mit ihren zahlreichen Gebrauchsstücken, durch ihre theaterpraktischen Erfahrungen und die kluge Erkenntnis der literarischen Bedürfnislosigkeit breiter Publikumsschichten zu einer unentbehrlichen Repertoire-Stütze der deut­schen Bühnen des 19. Jahrhunderts geworden.

Hatte Theodor Fontane 1872 bei seiner ersten Bekanntschaft mit einem Schauspiel der Birch-Pfeiffer es handelte sich umMutter und Sohn die Verfasserin in seiner amüsiert-spöttischen Rezension mit dem unausweichlichen Fatum verglichen (Niemand entgeht seinem Schicksal. Früher oder später bricht es herein! Ein Vierteljahrhundert lang waren wir, i n Dienst und außer Dienst, unsern Theaterweg gegangen, gnädiglich bewahrt vor einem Äußersten; da kam der 18. Januar, ein düsterer Tag... und siehe ,Mutter und Sohn' stellte sich uns mit zwei Abteilungen und fünf Akten in den Weg ... und streckte uns nieder. O Birch-Pfeiffer...! Ist das ein Stück! 23 ), so hatte er doch in den folgenden Jahren in zahlreichen Birch-Pfeiffer-Schauspielen den sicheren Blick der Autorin für theatergemäße Notwendigkeiten und ihrnatür­liches Talent für dramatische Wirkung 2 ' 1 erkannt und die Legitimität ihrer Produktionen für den Spielplan akzeptiert.

Auf Grund der Beliebtheit gerade der Grille-Figur bei den gastierenden Schauspielerinnen, war er im Laufe der letzten acht Jahre verschiedenen Vertreterinnen des naiven Faches, darunter der berühmten Hedwig Niemann-Raabe 25 begegnet, so daß er sich in der Lage sah, als ihm Paula Conrad in dieser Rolle auf der Bühne des Königlichen Schauspiel­hauses entgegentrat, bei der Wiedergabe seines unmittelbaren kritischen Eindruckes auch gezielte Vergleiche anstellen zu können.Es hat mir an der gestrigen ,Grille keineswegs alles gefallen, aber gerade der Umstand, daß ich, trotz mannigfachen Unbefriedigtseins im einzelnen, im ganzen nicht bloß befriedigt, sondern geradezu hingerissen wurde, gilt mir als Beweis einer weit über das Alltägliche hinaus-

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