gehenden Begabung. Die Grille zählt freilich zu den dankbaren, vielleicht zu den allerdankbarsten Rollen, und ein direktes Scheitern darin ist fast unmöglich, der Erfolg indessen, den Fräulein Conrad errang, war kein Durchschnittserfolg, kein Erfolg des Exerzitiums oder der Routine, sondern umgekehrt einer starken Innerlichkeit.“ 20 Nach einer Aufzählung der schwachen Stellen und Mißgriffe im Spiel der Schauspielerin, die für Fontane in einer bisweilen undeutlichen und nachlässigen Sprechweise, in einer gewissen Übertreibung der Grundtendenzen der Rolle und einer allzu starken Betonung der Gegensätze in der Entwicklung der Figur lagen, ging er in weiteren Einzelheiten auf seinen überraschenden positiven Eindruck ein: „Dies die Fehler und Mängel im Spiel der jungen Künstlerin, die glücklicherweise neben ihren Vorzügen verschwinden. Sie hat Feuer, Leidenschaft, Selbstvergessen. Sie vergißt ihr Ich und geht in ihrer Rolle auf... Sie hat eine Seele, und ihr an und für sich nicht bevorzugtes Organ empfängt dadurch einen Beisatz von Edelmetall und erhebt sich zum Rang einer Stimme. Solche gewordenen Stimmen pflegen im Drama immer die wirksamsten zu sein. Einzelnes gab sie mit absoluter Meisterschaft... Aber auch ganze Szenen kamen bis zur Perfektion, und ich habe die Liebes- szene zwischen Grille und Landry ... nie besser spielen sehn, auch von den in dieser Rolle gefeiertsten Künstlerinnen nicht. Der Beifall war von Anfang an sehr lebhaft und wiederholte sich, immer steigend, nach Schluß jedes Aktes. Unter dem vielen, was mir an der jungen Künstlerin gefiel, war auch die Art, wie sie dankte. Sie scheint eben in allem apart. Hab’ ich darin recht, so suche man sich eines solchen Talentes doch ja zu versichern...“ 27
Zwei Tage später, am 28. Mai 1880, betrat Paula Conrad in ihrer zweiten Gastspielrolle die Bühne des Schauspielhauses. Sie spielte die Hedwig in dem damals sehr beliebten Einakter „Sie. hat ihr Herz entdeckt“ von Wolfgang Müller von Königswinter. Daß Fontane seine in der ersten Kritik geäußerte ungestüme Begeisterung selbst suspekt erschien, gab er in seiner zweiten Rezension ehrlich zu: „Ich war nach dem reichlichen und beinahe enthusiastischen Lobe, das ich ihrer Grille gespendet., einigermaßen in Sorge. Denn nichts häufiger, als daß der ,Rugklaas‘ (wie die Plattdeutschen sagen) nachkommt.Und dann sitzt man verlegen da, als wäre man schuld an der Enttäuschung, die sich auf allen Gesichtern spiegelt. Aber diese Verlegenheit blieb mir erspart, alle Sorge war umsonst gewesen, und an den großen Mittwocherfolg schloß sich gestern ein noch größerer Freitagserfolg. Ich habe so was Reizendes noch gar nicht gesehn; es stellt selbst die Besten in den Schatten. Zu diesen Besten zählt doch unbedingt Frau Niemann-Raabe 2 *. Und es soll zugestanden sein, daß das Maß ihrer Kunst ebenso groß oder meinetwegen auch noch größer ist. Oder meinetwegen auch noch viel größer. Aber es ist eben Kunst und wieder Kunst, die, so groß sie sein mag, den Weg zur Natur doch nicht absolut zurückgefunden hat... es muß... gesagt werden, daß es dem Spiele der Frau Niemann, all seine Vorzüge zugestanden, an einem letzten Etwas, an jenem undefinierbaren Charme
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