Heft 
(1975) 22
Seite
459
Einzelbild herunterladen

gebricht, der aus dem vollkommenen. Zusammenklange/ von Kunst und Natur erblüht. Und diesen Charme hat Fräulein Conrad. Es ist das denkbar glücklichste Mischungsverhältnis, das sich im ganzen und im einzelnen ihres Spieles ausspricht. Ich höre, sie soll nicht hübsch sein, aber in ihrer Bühnenerscheinung ist sie voll Reiz und Anmut. Eine Stupsnasenbeaute comme il faut. Und ihre Figur, auf den ersten Blick unbedeutend, erweist sich bald als von wundervoller Proportion und gefälligster Kontur. Ich muß diese Dinge hervorheben, weil ihr Spiel aus ihrem ganzen äußerlichen Menschen s o reich, s o nachhaltig unterstützt wird, daß es mir an manchen Stellen zweifelhaft war, ob das anmutige Menschenbild die Kunst oder die Kunst das anmutige Menschenbild geschaffen habe... Ihrem Spiel entsprechen ihre Bewegungen und ihre schönen Arme (bekanntlich ein Allerseltenstes), und ich mußte dem lokalgefärbten Satze, der mir auf dem Foyer begegnete, zustimmen: .Schöne Arme sind noch schöner als ein Talent. Und dabei kleidet ihr alles. Und dies ist mir recht eigentlich der Beweis ihrer eminenten Begabung... Wird Fräulein Conrad engagiert, so kann ihr weder Haß noch Liebe den Weg zur Lieblingsschaft versperren. Um das zu prophezeien, braucht man nicht zu den G-roßpropheten zu gehören ... 2!) Wer war nun diese zwanzigjährige Schauspielerin, die von dem sechzig- jährigen erfahrenen Kritiker in geradezu jugendlicher Begeisterung mit soviel rückhaltlosem Lob und entzückter Zustimmung bedacht wurde?

Paula Conrad wurde als Pauline Conrad am 27. 2. 1860 in Wien geboren. Ihr Vater, von Beruf Sattler, hegte eine leidenschaftliche Neigung für das Theater, der er aber seiner großen Familie wegen nicht ausschließlidi nachgehen konnte. So hatte er sich mit Anstellungen als Souffleur,An­melder, Theaterdiener und als Schauspieler in unbedeutenden Neben­rollen begnügen müssen, wobei es ihm gelungen war, seine Töchter Marie, Amalie und Pauline auf die Bühne zu bringen. Sie traten in vielen Kindervorstellungen auf, die damals in Wien sehr beliebt waren und einen großen Zuspruch hatten. Nach unbestreitbaren Erfolgen in verschiedenen Kinderrollen, die sogar von der Presse bestätigt wurden, faßte die kaum zwölfjährige Pauline den Entschluß, Schauspielerin zu werden.

Mit sechzehn Jahren erhielt sie ihr erstes festes Engagement alsnaive Liebhaberin im Volkstheater in Rudolfsheim. Nach weiteren Engage­ments in Baden bei Wien, an derWiener Neustädter Bühne und in Olrnütz, heute Olomouc, kam die junge Schauspielerin für die Spielzeit 1879,80 als erste jugendliche, muntere und naive Liebhaberin an das Stadttheater in Brünn (Brno).

Hier wurde .sie von einer aufmerksamen Presse besonders gelobt, von einem guten Regisseur schauspielerisch gefördert und vomTagesboten aus Böhmen und Mähren zumanerkannten Liebling des hiesigen Publikums 30 erklärt. Ein Gastspiel der berühmten Aktrice Auguste Wilbrandt-Baudius 31 , der Gattin des Schriftstellers Adolf Wilbrandt 32 an der Brünner Bühne, ebnete Paula Conrad den Weg nach Berlin.

459