Heft 
(1975) 22
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mochte. Jeder Neuankömmling wurde daher weitgehend sich selbst überlassen und oft sogar durch die fortwährende Beschäftigung in einem bestimmten Rollengenre an seiner Entwicklung gehindert. Die Erkenntnis dieser Sachlage ging aus dem Schreiben Paula Conrads an den General­intendanten klar hervor:Ich sehe aber nun, wie das erste Contraktjahr zu Ende geht, daß ich mich in meinen Hoffnungen getäuscht. Ich habe außer meinen... Debütrollen nur noch den ,Puck gespielt, der für mich eine künstlerische Aufgabe war; alle übrigen Rollen waren 2. und 3. Ranges und Exz. werden wohl einsehen, daß mich eine solche Un- thätigkeit herabstimmen muß, denn ich sage mir, daß Exz. wohl meine Fähigkeiten besser taxiren als ich, und ich also noch viel lernen muß, bis ich die Berechtigung habe, eine bessere Beschäftigung am Berliner Hoftheater zu erhoffen. In der Rolledomaine aber, in welcher ich mach jetzt hauptsächlich bewege, fühle ich, daß ich Nichts zulernen kann, und statt vorwärts, rückwärts gehen könnte. Ich bin daher entschlossen, meine Wanderschaft wieder anzutreten, da meine Lehrjahre noch sehr im Anfänge sind ... 45

Botho von Hülsen lehnte das Entlassungsgesuch sehr bestimmt ab. Er hatte längst erkannt, welche schauspielerische Kraft er mit der jungen Künstlerin gewonnen hatte. Die Conrad war in der kurzen Zeit ihrer Zugehörigkeit zum Schauspielhaus zu einem wichtigen Faktor geworden, der sowohl zum künstlerischen als auch zum finanziellen Erfolg des Theaters entschieden beigetragen hatte. Finanziell versuchte er daher die Schauspielerin zu entschädigen, wenn er ihr künstlerisch nicht in ausreichender Weise entgegenkommen konnte.

Es ist anzunehmen, daß Fontane bald nach dem Engagementsbeginn der Conrad die Schauspielerin persönlich kennengelemt hatte. Es gehörte zu den Gepflogenheiten, daß neuengagierte Mitglieder großer Bühnen bei den zuständigen Kritikern Antrittsbesuche machten, gewissermaßen einegood-will-tour absolvierten.

Sicher ist Paula Conrad der erste Weg zu Fontane besonders leicht gefallen, konnte sie doch seines Interesses und seiner Sympathie in besonderem Maße gewiß sein. Fontane dagegen hatte Gelegnheit, sich von der Richtigkeit seines Eindruckes, den er auf seinem Parkettplatz gewonnen hatte, zu überzeugen.In der Regel schnopere ich richtig an den Menschen herum. Denn auf solche sinnlichen Eindrücke läuft all unser Urtheil hinaus ... w

Es ist mehr als wahrscheinlich, daß Paula Conrad auch mit ihren Problemen, die ihre künstlerischen Entwicklungsmöglichkeiten und die Ablehnung ihres Entlassungsgesuches betrafen, zu Fontane kam. Die Kenntnis dieser Hintergründe brachte er in seiner Kritik vom Juni 1881 deutlich zum Ausdruck,als Paula Conrad in der Rolle derHermance in dem Birch-Pfeiffer-SchauspielEin Kind des Glücks einen glänzenden Erfolg errang.Eine... ganz aparte Begabung hat nun aber Fräulein Conrad, die die Hermance spielte. Sie ist selber ,ein Kind des Glücks 1 . Denn so begabt zu sein, ist ein Glück und ein sehr großes und sehr

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