Mit der Beendigung von Fontanes Kritikertätigkeit fehlen seine verläßlichen Urteile über den weiteren schauspielerischen Werdegang Paula Conrads. So gibt es keine Äußerung des Dichters über den großen Erfolg der Künstlerin als Katharina in „Der Widerspenstigen Zähmung“ von Shakespeare mit Adalbert Matkowsky 101 als Partner, keine Zeile über ihre Lotte Balzer in Wildenbruchs Schauspiel „Meister Balzer“, ebenfalls mit Matkowsky, und auch kein Wort Fontanes über Paula Conrads erste große dramatische Rolle als Martha Bode in Viktor Naumanns „Ikarus“, einem Stück, das trotz der unbestrittenen schauspielerischen Glanzleistungen von Paula Conrad und Maximilian Ludwig 102 , aus sogenannten sittlichen Erwägungen, kurz nach der Premiere für immer vom Spielplan verschwand. Auch einer ihrer größten Triumphe, den die Künstlerin als Lanzelot Gobbo in Shakespeares „Kaufmann von Venedig“ im Schauspielhaus feiern konnte und der für viele Jahre eine Neubelebung des alten Schauspiels zur Folge hatte, wurde von Fontane nur indirekt in einem Neujahrsbillet erwähnt: „Mit herzlicher Freude haben wir von dem gelungenen ,Kaufmann von Venedig 1 und dem noch gelungeneren Lanzelot Gobbo gehört und gelesen ... “ 103
Da Fontane mehrmals äußerste, er sei „froh, keine Kritiken mehr schreiben zu müssen ... “ m , ist auch anzunehmen, daß er seinen Vorsatz wahr machte und in den letzten Jahren seines Lebens kaum noch Premieren besuchte. Andererseits ist aber sicher, daß er sich hin und wieder einzelne, ausgewählte Aufführungen ansah. Abgesehen von allen bildungsmäßigen Aufgaben des Theaters, betonte Fontane den reinen Unterhaltungswert, den ein Schauspielhaus zu bieten imstande ist. „Ich .. . räume aber ein, daß das Theater unter den guten Zerstreuungen und Erquickungen doch obenan steht. Die Sache hat einen Reiz und auch die Personen. Ein Geheimrat muß schon sehr gut sein, wenn er so interessant sein soll wie Frau Kahle oder die kleine Conrad ... “ lor> Die wichtigste Rolle Paula Conrads in jenen Jahren war die des Hannele in der Uraufführung von Gerhart Hauptmanns Traumstück „Hanneles Himmelfahrt“, die am 14. November 1893 im Königlichen Schauspielhaus stattfand. Fontane hat diese Inszenierung gesehen. Wie er die Verkörperung der Titelrolle durch Paula Conrad beurteilt hat, die nach der Meinung der Kritik „mit dem sterbenden und träumenden Dorfkind Hannele den Höhepunkt ihrer künsterischen Laufbahn erreichte..." 1Wi , ist nicht bekannt. Es bleibt zu vermuten, daß seine unbedingte Ablehnung des Stückes, das er trotz seiner Hauptmann-Anhängerschaft „verfehlt und verwerflich“ 107 fand und das in ihm „nicht den geringsten Eindruck“ 106 hinterließ, auch seine Aufnahmebereitschaft für die schauspielerischen Leistungen vermindert hat.
Das gewonnene Terrain, das sich Paula Conrad durch die große Resonanz ihrer Hannele-Rolle bei Presse und Publikum erobert hatte, vermochte sie in den folgenden Jahren kaum weiter zu befestigen. Eine schwere Kehlkopferkrankung — Folge der dauernden Überforderung der Künstlerin — machte die Conrad vom Herbst 1894 bis zum Sommer 1895 arbeitsunfähig.
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