begegnet man bei ihm nie und nimmer jener trostlosen, borniert-eigensinnigen Einseitigkeit, an der unser guter Roquette laboriert. Es ist wahr, daß solche Einseitigkeit für die lyrische Produktion gemeinhin förderlich ist und daß reizende Sachen, wie sie Roquette und namentlich auch unser Storm geschrieben haben, nie zur Welt gekommen wären, wenn sie jeden Tag die ,Times“ gelesen und sich um nationalökonomische Fragen den Kopf zerbrochen hätten, aber der Rütli beabsichtigt keineswegs, ein unter Fenster- und Mauerverschluß gebrachtes lyrisches Treibhaus zu sein, sondern will zum guten Teil innerhalb des wirklichen Lebens stehn, will Kritik üben über die mannigfachsten Erscheinungen, will mit einem Wort eine Gesellschaft von Männern und nicht eine literarische Studentenverbindung sein ..
Man wird mir zustimmen: es ist eine höchst bemerkenswerte Stelle, die den Lesern vorenthalten wurde. Doch es gibt noch weit Schlimmeres, das man nur als zynische Fälschung bezeichnen kann. Die „Letzte Auslese“ druckt einen Brief an Hermann Wichmann vom 2. Juni 1881 ab, und darin findet sich folgende Expektoration über den Kunstschriftsteller und katholisch-konservativen Politiker August Reichensperger:
„Reichensperger, so höre ich eben, will trotz seiner 3 oder 84 nach England gehen, um daselbst einen großen Kontrakt mit einem englischen Verleger abzuschließen. Ob letzterer auf seine Rechnung kommt? Ich glaube, Reichenspergers Tage sind doch literarisch gezählt. Mein Urteil über ihn ist zwar ausschließlich frauenhaftes Urteil, d. h. sentimental, da ich unendlich wenig von ihm gelesen habe — alles aber, was ich von seiner Schule und Richtung weiß, ist mir durchaus contre coeur. — Es ist mir doch lieb, heute am 6. Juni diesen am 2. geschriebenen Zeilen noch ein Wort hinzufügen zu können. Im letzten Rütli vorgestern kam zufällig das Gespräch auf Reichensperger, und ich hörte erst nun, daß sein neuestes Werk allgemein bewundert würde. Lazarus z. B. hat erklärt, so was Glänzendes noch gar nicht gelesen zu haben. Ist dies auch übertrieben, so gibt es mir doch zu denken. Ich glaube nicht an diese Formen des Liberalismus und ihre besondere und vorzugsweise Berechtigung, und ich glaube fast noch weniger daran, daß man aus Archiven das Material zur Geschichtsschreibung holen muß. Dies vornehme Herunterblicken auf alles, was nicht in Akten und Staatspapieren steht, ist in meinen Augen lächerlich — die wahre Kenntnis einer Epoche und ihrer Menschen, worauf es doch schließlich ankommt, entnimmt man aus ganz anderen Dingen. In 6 altenfritzischen Anekdoten steckt mehr vom Alten Fritz als in den Staatspapieren seiner Zeit.“
Dies ist eine typische Fontane-Stelle: die Schilderung einer zufälligen Begegnung wird Anlaß zu einer geistreichen Grundsatzdebatte. Dem Kenner könnte höchstens auffallen, daß Herr Reichensperger, über den
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