hier orakelt wird, 1881 nicht 83 Jahre alt war, sondern erst 73, und daß er mit Geschichtsschreibung eigentlich nichts zu tun hatte. Schaut man sich indes die Handschrift dieses Briefes an, die sich im Fontane-Archiv befindet, dann ist die Überraschung komplett; denn alles, was hier gesagt ist, wird nicht über Reichensperger, sondern über keinen Geringeren als Leopold von Ranke gesagt, und erst so bekommt der Text seinen Sinn. Ein Kommentar zu diesem „Fall“ erübrigt sich, wenn man im Vorwort zu dieser „Letzten Auslese“ liest, daß zur Zeit der Drucklegung „des Reiches großer Abwehrkampf alles beherrschend in den Vordergrund“ getreten sei. Unter diesem Vorzeichen waren Fontanes kritische Äußerungen über Ranke natürlich nicht opportun.
Ja, so sehen die Ausgaben eines der bedeutendsten Brief Schreiber der deutschen Literatur aus! Und ein Blick auf die Editionen von Einzelkorrespondenzen verbessert das Bild nicht wesentlich. Der Briefwechsel mit Lepel ist unvollständig ediert: Joachim Krueger hat vor einigen Jahren einen Brief veröffentlicht, den Julius Petersen aus Familienrücksichten in seine Ausgabe nicht aufgenommen hatte. Ich selbst habe festgestellt, daß auch die Textwiedergabe recht unzuverlässig ist. So fehlt beispielsweise im Brief vom 27. Juli 1846 ein vierzeiliger Satz, den der Herausgeber offenbar für zu frivol hielt. Lesefehler wie „leichte“ statt „leidliche“ oder „annehmen“ statt „nicht annehmen“ sind keine Seltenheit. Ähnlich sieht der Text des Briefwechsels Fontane-Heyse aus, in dem übrigens ein gutes Dutzend Briefe fehlen, die im Schiller-Nationalmuseum Marbach und im Goethe- und Schiller-Archiv Weimar aufbewahrt werden. Glücklicherweise ist wenigstens die beziehungsreiche Korrespondenz mit Friedlaender sorgfältig und zuverlässig ediert, eine Arbeit, mit der sich Kurt Schreinert verdient gemacht hat.
Was also fehlt, ist eine umfassende, wissenschaftlich betreute Ausgabe der Fontane-Briefe, die auf die Handschriften zurückgeht oder — wo diese fehlen — auf die Abschriften, die seinerzeit nach den Originalen angefertigt wurden und die bis zu einem gewissen Grade recht zuverlässig sind. Heute und morgen ist freilich an eine solche Ausgabe nicht zu denken, allerdings werden einige Editionen vorbereitet, die wenigstens diese und jene andere Lücke schließen werden. Im Aufbau-Verlag Berlin und Weimar erschien im Sommer 1968 bereits eine populäre zweibändige Auswahl. Sie enthält rund 450 Briefe, die zu über achtzig Prozent nach den Handschriften bzw. Abschriften gedruckt wurden und auf diese Weise einen ganz beträchtlichen Textteil erstmals zugänglich machten. Im Aufbau-Verlag werden ferner die Briefe an Julius Rodenberg (1969) und an das Ehepaar Merckel (1970) vorbereitet; später soll auch eine Neuausgabe des Briefwechsels Fontane-Heyse folgen. Zwei größere Projekte in Westdeutschland sind durch den Tod Kurt Schreinerts ins Stocken geraten. Schreinert bereitete die über 550 Briefe Fontanes an seinen
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