Helmuth Nürnberger: Der frühe Fontane. 1840 bis 1860.
Politik, Poesie, Geschichte
Hamburg: Christian Wegner Verlag 1967
„Scheint es nicht“, so fragte Thomas Mann 1910 in seinem Essay über Theodor Fontane, „daß er alt, sehr alt werden mußte, um ganz er selbst zu werden?“ Diese berühmte Formulierung prägte den längst landläufig gewordenen Begriff vom „alten Fontane“ entscheidend mit und fixierte eine Vorstellung, in der sich ebendieser „alte Fontane“ als eine Erscheinung sui generis ausnahm, als ein reines Phänomen des Alters. Der „eigentliche“ Fontane — das war und ist vielfach noch der Schöpfer des erzählerischen Spätwerks, der mit jenem Publizisten und Redakteur, Lyriker und Reiseschilderer Fontane aus den Jahrzehnten zwischen 1840 und 1860 nur den Namen • gemeinsam zu haben scheint. Die zusammenfassenden literaturwissenschaftlichen Darstellungen erlagen aus guten Gründen der Faszination durch das Alterswerk. Sie bemühten sich unter diesem Zeichen nicht um ein historisch-dialektisches Gesamtbild von der widerspruchsreichen Genesis des „Effi-Briest“-Autors, sondern konfrontierten die literarisch opulente und politisch bemerkenswerte Spätphase mit der vermeintlich unergiebigen Jugendentwicklung. Fontane hat diese Einseitigkeit seines literaturhistorischen Profils zu gutem Teil „mitverschuldet“ : Seine autobiographischen Bücher retuschieren bewußt und unbewußt literarische Fakten und biographische Ereignisse der Frühzeit, und bis auf wenige ausgewählte Gedichte hat er die Dokumente seiner literarischen Anfänge nicht wieder drucken lassen.
Erst in den letzten Jahren, als Germanisten und Verleger in aller Welt Fontane als (wie er gesagt haben würde) „Nummer 1“ zu entdecken begannen, ist durch die Veröffentlichung unbekannter und ungedruckter Texte auch das Interesse am „jungen Fontane“ geweckt worden. Die unvoreingenommene Prüfung dieser literarischen Zeugnisse erweist dabei sehr rasch, wie haltlos die Trennung oder gar Gegenüberstellung von Früh- und Spätphase und wie fruchtbar die intime Kenntnis des jungen Fontane ist — nicht zuletzt für das umfassendere Verständnis des Spätwerks. Lyrik, Briefe, Publizistik und autobiographische Aufzeichnungen zeigen allenthalben die Ansätze, die später die gesellschaftliche und literarische Position des „alten Fontane“ konstituierten. Sie demonstrieren nicht den Gegensatz, sie dokumentieren die Kontinuität. Der Gesellschaftskritiker und Zeitdiagnostiker Fontane hat sein literarisches Rüstzeug in einer Periode erworben, die die bürgerliche Literaturwissenschaft allzu gern und allzu einfach als Fontanes Preußensängerzeit abtat. Gewiß, seine Haltung im Vor- und Nachmärz war voller Widersprüche (er hat 1850 selbst bekannt: „Ich bin ein unglückselig Rohr: / Gefühle und Ge-
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