Aus der neuen deutschen Lyrik.
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und mir für's ganze Leben meine treue Freundin bleiben .. . So, Lisel, nun hast Du Deinen Willen, — ich schwöre fest zu Deiner Fahne — nun hör' aber auch auf zu weinen und wisch' Dir die Thränen ab, Du steckst mich sonst an mit Deiner unnöthigen Desperation."
Sie umarmten sich lange und zärtlich, die beiden Schicksalsgefährtinnen, und besprachen sich noch eifrig eine Weile hernach, dann schrieb, der Rolle gemäß, Fräulein Marie Werner, die Gesellschafterin der Tante, etliche Briese im Aufträge der Lady Macduff und dann machten sie Toilette und fuhren am Nachmittage hinaus Zu den Wettrennen, wo sie den letzten
Rest von ihren geschäftlichen Sorgen und schwermütigen Gedanken abschüttelten.
Sie waren etliche Male genöthigt, die Schleier tiefer herunter Zu ziehen, auch zornige Blicke zu senden, denn einige junge Kavaliere, mehrere Offiziere darunter, betrachteten die hübschen Fremden mit mehr Aufmerksamkeit als ihnen lieb war. Es hatten einige von ihnen sogar die Kühnheit, Bouquets in ihren Wagen zu werfen und ihnen Eis und Champagner zu schicken; dieselben warteten diese letzte, etwas übertriebene Artigkeit nicht ab, beim Nahen der Boten fuhr der Wagen — noch vor dem Ende des Rennens — in beschleunigter Gangart davon.
(Fortsetzung folgt.)
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Aus der neuen deutschen Lyrik.
B e r g l r e d.
von
Max Schlierbach.
G Morgenluft, so kühl, so rein!
Da schreiten fröhlich wir zu Zwein Empor aus steilem Steige.
Wider den Stein das Eisen klingt Des Bergstocks, den die Rechte schwingt,
Und an die Tannenzweige Anstreifend, schüttelt ein glitzerndes fteer Thautropfen über die Wanderer her Der zitternde Schaft der Esche.
Ihr kseimatberge morgenschön,
Ihr Wolkenschleier um Felsenhöhn,
Seid mir gegrüßt in Wonne!
Küsse die Stirn mir mit goldigein Glanz,
Wenn durch der wirbelnden Nebel Tanz Du dich durchkämpfst, ewige Sonne,
Und über den nächtlich schlummernden See Und über der Gletscher flimmernden Schnee In purpurnen wogen strömest.
Durch alle Glieder fühl' ich die Kraft,
Die in den unendlicheil weiten schasst
Und iil unsterblicher Schöne
Bis an die dämmernden Grenzen der Welt
Zu den leuchtenden Sternen die Sterne gesellt,
Und im Einklang jauchzender Töne
Die Bahnen verschlingt iin himmlischen Blau,
Daß in seligem Traum, daß in trunkener Schau
Die feuchten Blicke sich wirren.
sAus: „Scherer, Deutscher Dichterwald".
Der schöne Brunnen.
von
L. Ferdinand Nieder.
Der Springquell plätschert und ergießt Sich in der Marmorschale Grund,
Die, sich verschleiernd, übcrfließt In einer zweiten Schale Rund;
Und diese gibt, sie wird zu reich,
Der dritten wallend ihre Flut,
Und jede nimmt und gibt zugleich, Und Alles strömt und Alles ruht.
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A b e n d h e l l e.
von
Stephan Mlow.
Wunderbare Abendhelle,
Rings die Welt so klar, so frei! Trunken, mit beschwingter Schnelle Gleitet ihr mein Blick vorbei.
Weiter strebt er in die Ferne,
Immer weiter durch den Raum, Strebt noch über jene Sterne,
Die dort glühn am Lsimmelssaum.
Ach, umsonst sein rastlos Schiffen!
Ach, kein Ziel, wär's noch so weit! Doch ich schaue, süß ergriffen,
Tief in die Unendlichkeit.
Stuttgart und Leipzig, Deutsche Verlags-Anstalt.)
Deutsche NoMan-Biblioihek. XIl. 14 .
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