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Deutsche Roman-Bibliothek.
Carabet, seiner Natur nach wenig für stille Begeisterung veranlagt, führte Dibbeh behaglich schwatzend von Stamm zu Stamm und endlich zur kleinen Kapelle, wo die Andacht noch dauerte. Das Mädchen war ihm willenlos gefolgt und achtete des Ortes kaum, an dem sie sich befand, als plötzlich während einer Pause in den Responsorien, wenige Schritte hinter ihr, aus geheimnißvollem Baumschatten ein arabisches Lied erklang:
„Ich bin dem wunden Kameel gleich,
Im Weh beiß' ich die Zähne zusammen,
Meine Last ist schwer und nicht weich,
Meine Füße schneiden tiefe Schrammen."
Ein schmerzhafter Schauer durchfuhr die Aufhorchende. Es war ihre Sklavenkette, deren Klirren sie in dem rauhen Nachklang aus der Vergangenheit vernahm. Fassungslos, den Nus des Gebieters mißachtend, lehnte sie das schwindelnde Haupt an einen nahen Stamm und schloß die Augen, aus welchen große Thränen fielen. Ein Taumel unsäglicher Angst erfaßte Dibbeh, daß sie bebend die Hände rang und ihr die Kniee brachen.
„Was ist Ihnen, Miß Grace?" fragte der gnt- müthig besorgte Carabet.
„Zerrissen und blutig ist mein Rücken,
Und die Wunden sind unheilbar—"
tönte es eindringlich weiter, als die Mönchsgesänge eine Weile verstummten.
Dibbeh raffte sich gewaltsam auf; die schwer- müthige Klage schnitt ihr in's Herz, in's Gewissen.
„Mr. Carabet," stammelte sie, „suchen Sie meinen Bruder und Mr. Everett auf, ich bitte, und bringen Sie sie hieher, damit sie den Schluß der Mitternachtsmesse wenigstens noch hören. Sagen Sie Aunis —"
Sie stockte. Ein Gruß selbst an ihn konnte ihre Absicht vorzeitig enthüllen. Und was fragte der Fühllose wohl auch darnach!
„Aber Sie sind nicht wohl, Miß Grace, ich darf Sie jetzt nicht allein lassen," wandte er freundlich ein.
„Es war ein vorübergehender Schwindel; — ich stehe schon wieder fest auf den Füßen," scherzte sie mühsam. „Gehen Sie, Mr. Carabet."
„So will ich Ihrem Wunsch entsprechen, Miß Grace," gab der Missionär nach, der keine Gefahr für das Mädchen in ihrem Verweilen unter den andächtigen Betern sehen konnte, „aber weichen Sie nicht von dein Platz hinter der Kapelle, damit wir Sie gleich finden."
„Ohne Sorge," murmelte Dibbeh befangen. „Verlaufen werd' ich mich nicht-höchstens verlieren."
So leise flüsterte sie die letzten Worte, daß er sie nicht einmal vernahm. Dagegen hörte er deutlich die Schlußstrophen des arabischen Gesanges, der mit so seltsamen Unterbrechungen erklungen war:
„Doch mehr als Alles muß mich bedrücken,
Daß einsam wandern mein Theil war."
Noch einmal drehte sich der Missionär um, ehe er um die Ecke der Kapelle bog, und sah das junge Mädchen an demselben Orte, wo er sie verlassen, stehen; nur schien ihm, als hätte sie den Kopfüber die Schulter gewendet und blickte in das tiefe Dunkel
rückwärts, in dem sich der Sänger des schwermüthigen Liedes wohl vor der festlich gestimmten Menge barg.
Der Zufall wollte, daß während Carabet Everett und Aunis in einer Richtung suchte, dieselben in der entgegengesetzten vordrangen, um Dibbeh und ihren Begleiter zu treffen. Nach längerem vergeblichem Umherspüren wendete sich der Missionär endlich dem Ausgange des Weges von Kanobin zu, wo die Knechte und Maulthiere zurückgeblieben waren und er vielleicht erfahren konnte, wohin die Gesuchten sich gewendet.
Schon aus einiger Entfernung siel ihm eine gewisse Unruhe unter der Gruppe auf, und als er zu ihr trat, bemerkte er, daß der Djehal, welcher sich den ganzen Tag im Lager nicht sehen lassen, sich unter seinen Leuten befand und mit ihnen zankte.
„Was gibt es, Abu Jschok?" fragte Carabet, ihm unvermuthet die Hand aus die Schulter legend.
„Aullah, welcher Dämon — ? Doch wie, verehrter Howadji, Ihr seid es und würdigt den armen Ausgestoßenen, Verfolgten einer gütigen Anrede?! O werther Herr, welch' traurige Zeiten für den unglücklichen Abu Jschok, dessen guter Name und redlicher Erwerb dahinschmelzen im Feuer der Trübsal! Ach, dürfte der Trostlose wenigstens auf Euer erbarmendes Wohlwollen noch rechnen, frommer Howadji!"
„Was redest Du nur, Freund?" fragte verwundert der Missionär. „Du scheinst mir in sündigem Hochmuth Anderen Vorwürfe Zu machen, anstatt demüthig um Deiner eigenen Versäumnisse willen in Dich zu gehen. Daß Dein Ruf als Fremdenführer durch Vernachlässigungen, wie die, welche Du Dir gestern und heute zu Schulden kommen lassen, leiden muß, ist lediglich natürlich, aber es stand ja bei Dir, Deine Pflicht besser zu erfüllen."
„Nicht doch, werther Howadji; denn all' mein Denken und Sinnen nahm der elende Hund — ich meine, der ungetreue Knecht Abu Musa in Anspruch, den böse Geister zerreißen, — den ein gerechter Richter züchtigen möge."
„Abu Musa?" rief Carabet neugierig. „Wie doch, mein Freund, hast Du denn in ihm nicht den Drusen Affad wieder erkannt, welcher einst die kleine Dibbeh entführte und den Du in Burg Schnkif mit ihr getroffen?"
Der Djehal fuhr bei der Entdeckung, daß der Verkleidete von Carabet herausgefunden worden, heftig zusammen und wußte nicht gleich, was darauf erwiedern; doch dauerte seine Fassungslosigkeit nicht lange, bot ihm doch die letzte Angabe des Missionärs eine stichhaltige Entschuldigung.
„Werther Howadji," rief er, den Verblüfften spielend, „was muß ich da erfahren?! Wie, dieser nichtswürdige — dieser Abu Musa wäre jener räuberische Gesell?! Willah! Ich konnte ihn freilich nicht erkennen, da ich Affad ibn Kottar nie deutlich gesehen; aber ich hätt' es begreifen sollen, daß er Dibbeh's Feind sei, da er sich so Zornig über sie äußerte."
„Nicht möglich!" rief der Missionär, „ich erblickte ihn ja mit eigenen Augen heute Morgen in freundschaftlichem Gespräch mit ihr."