046
Deutsche Nom
Ringen um Wellesley's Reichthum nie Zu treiben gestattet, daß darüber das Leben des ihm im Wege stehenden Mädchens gesährdet worden wäre. Es war Henry Ernst mit dem materiellen Schutz gewesen, den er Dibbeh auf dem Waldwege angeboten, als ihm der Ausdruck in Assad's Zügen einen Augenblick Besorgniß eingeflößt; daß er sich schließlich durch die heuchlerische Haltung des Barbaren so hatte täuschen lassen, um auf eine bloße romantische Entführung Vorbereitungen Zn treffen, konnte er sich nicht vergeben. Henry machte sich nun die heftigsten Vorwürfe und sann auf Mittel, seine Unritterlichkeit wieder gut Zu machen. Kaum gewahrte er daher, daß Junis zu einem Verständniß der Sachlage vorgedrungen sei, als er dessen Zorn über Carabet's dießmal so übel angebrachte Schweigsamkeit gegen den Effendi unterbrach und hastig und energisch rief:
„Alle Wetter! Es handelt sich jetzt nicht mehr um dergleichen Unsinn! Ans, Mr. Berrasch, und vereinigen wir unsere rasendsten Anstrengungen Zur Rettung Ihrer Schwester! Was schlagen Sie vor?"
„Ich denke," meinte Junis überlegsam, „das Beste wäre, die türkische Wache, welche hier auf Ordnung hält, zu benachrichtigen und sie hinter dem Schuft herzuhetzen."
„Zum Henker! Und wenn das ihn noch wüthen- der macht? Wenn er das Mädchen umbringt?"
„Jedenfalls," bemerkte der Effendi, „darf von der legalen Macht nicht abgesehen werden; die Folgen mögen sein, welche sie wollen."
„Ihre Bruderzärtlichkeit ist riesig lau!" zürnte Henry. „Heda, Mr. Schwarzrock, vielleicht gibt Ihnen Ihre Orts- und Menschenkenntniß einen weniger verzweifelten Plan ein."
„Man könnte," rieth der Zitternde Missionär, „Abu Jschok und die Maulthiertreiber auf einem andern Wege nach den Grotten voraussenden."
„Genau so, und ich würde sie selbst anführen, wenn meine nichtswürdige Unkenntniß ihrer Sprache nicht wäre. Thun Sie es also, Mr. Carabet, während ich die Aufgabe übernehme, Wellesley diese haarsträubende Nachricht zu bringeu."
Junis begab sich nach diesem kurzen Kriegsrath Zum Bimbaschi des Militärpostens, von dem er, kraft seiner Amtsgewalt, einige Leute zur Verfolgung eines Räubers verlangte, der nach seiner Angabe feine Schwester in den Wald gelockt habe, um sich ihres Schmuckes zu bemächtigen. Henry, Carabet und Abu Jschok eilten aus die Gruppe der Manl- thiertreiber zu, von denen der Amerikaner einen für sich zum Begleiter nach dem Lager beanspruchte, wohin derselbe zugleich das für Wellesley bestimmte Thier reiten sollte.
Während sich gleich darauf zwei Gruppen von Männern an die Verfolgung der Entflohenen machten, deren nächstes Ziel, die zwischen dem Cedern- hain und dem kahlen Paß von Ainat gelegenen Eremitenhöhlen, glücklicherweise Abu Jschok genau bekannt war, — und zwar in der Art, daß auf dessen Rath Junis mit seinen Trabanten langsam dem Wege folgte, welcher aus dem Walde aufwärts führte, während Carabet mit seinem Trupp kürzere Seitenpsade einschlug, auf denen man Assad Zuvor-
an-Sidliothek.
zukommen hoffen durfte, — trabte Everett, so rasch dieß bei dem ungewissen Lichte der eben aufgegangenen abnehmenden Mondsichel möglich war, in entgegengesetzter Richtung niederwärts nach Kanobin.
Bald lag der erleuchtete Festplatz wie ein glühender Nebel hinter ihm, und der Weg näherte sich dem Abhange der Kadischa, welchem er bis nahe dem Kloster folgt. Da bemerkte Henry plötzlich in einiger Entfernung vor sich auf einer buschfreien Strecke ein dunkles Etwas, welches eilig näher kam.
„Hallo!" rief er auf gut Glück die Gestalt an, obwohl deren Zugehörigkeit zum menschlichen Geschlecht ihm noch fraglich war, und setzte dabei zugleich seinen Revolver in Bereitschaft. „Hallo, wer zum Henker fackelt da im Mondschein herum?"
„Henry! — So komm' ich zu spät!" rief eiue nur zu bekannte Stimme, und im nächsten Augenblick stand Wellesley keuchend und in gebrochener Haltung neben dem Reiter, den er mit sprunghaften Bewegungen schnell erreicht.
„Sie hier, Mr. Wellesley? Was bringt Sie allein auf diesen halsbrecherischen Weg?"
„Dasselbe Unheil, welches Sie nach dem Lager treibt," ries in abgerissenen Lauten der Beraubte, Verzweifelnde. „Dibbeh ist entflohen? Jst's nicht so?"
„Alle Wetter! Woher wissen Sie?" fragte Henry, der abgesprungen war und die Zügel dem Maulthierknecht zugeworfen hatte, um den schwankenden Mann zu halten.
„Sie hat es mir geschrieben," stöhnte Wellesley. „Ich fand den Brief bald nach Ihrem Aufbruch, und da im ganzen Lager kein Reitthier auszutreiben war, eilte ich zu Fuße —"
„Sie hätten sich verirren können, Mr. Wellesley. Der Abgrund spaßt nicht!"
„Ich habe den Weg früher mehrfach zurückgelegt; — Zudem ist mein Geist hellsehend genug, um den Körper zu leiten. — Aber um dieß Alles handelt es sich nicht," rief Wellesley, indem er Everett den Weg nach dem Cedernhain hinanzog, „sagen Sie mir vielmehr, wie es Dibbeh gelang, sich Ihrem Schutz, Ihrer Bewachung zu entziehen, denn Sie hätten sie bewachen sollen, Henry, da Sie wußten —"
„Mr. Wellesley, ich kann, ich will mich nicht entschuldigen. Ihr Vorwurf ist nur Zu gerecht! Doch waren Berrasch und ich nicht in der unmittelbaren Nähe des Mädchens, als sie den bodenlosen Unsinn beging. Sie täuschte den Alles verkehrt anfassenden Schwarzrock, der uns im Festgetümmel suchte, während sie entsprang."
„Sie gewahrten also Assad, Henry, und schlossen daraus rasch auf eine Entführung?"
„Alle Wetter!" rief Henry erschrocken, denn jetzt erst fiel ihm ein, daß Dibbeh's Pflegevater aus ihrem Briefe eben nur ersehen haben könne, welche Gesinnungen die Betrogene gegen ihren Räuber hege, aber nicht die mörderischen Absichten des Drusen. „Alle Wetter, Mr. Wellesley, wir bekamen den schuftigen Burschen nicht einen Augenblick zu Gesicht."
„Was brachte Sie denn auf die richtige Ver- muthung?"
„Den Henker auch, da war dieser Abu Jschok, Mr. Wellesley," stotterte Everett, der nicht wagte,