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Deutsche Noman-SibLiothek.
wurden immer weniger und der Fragezeichen immer mehr. In der Mitte des Buches aber lag ein weißes, goldgerändertes Blatt mit einem Spruch darauf und dieser Spruch selbst lautete: „Vor Jedem steht ein Bild deß, was er werden soll. So lang er das nicht ist, ist nicht sein Friede voll." Franziska stutzte. „Wie schlicht," sagte sie, „wie nüchtern säst! Und doch bewegt es mich. Und warum? Ist es, weil ich das ,Bild dessen, was ich werden soll/ ahnungsvoll bereits vor mir sehe, oder ist es umgekehrt, weil ich es nicht sehe? Sonderbar."
Sie legte das Buch wieder aus der Hand, gab ihren Platz vor dem Kamin auf und setzte sich in die Fensternische. Wenn nicht Alles täuschte, so mußte sich das Wetter zum Guten geändert haben; nur kalt schien es geworden Zu sein, denn die Scheiben beschlugen sich und die Tropfen zogen Rinnen über das Glas. „Ich muß doch sehen," sagte sie neugierig und erhob sich halb von ihrem Sitz, um den Fensterflügel zu öffnen.
Wirklich, der Regen hatte nachgelassen und nur ein Nebel, der aus der halbüberschwemmten Landschaft aufstieg, lagerte noch zwischen Schloß und See. Seine Dichtigkeit hinderte den Schall, und nichts von Lärm und Leben drang von unten herauf, bis mit einem Male, wenn auch schwach und gedämpft nur, die Glocke des sich eben nähernden Dampfschiffes vernehmbar wurde. Sie freute sich des Tons und suchte begierig nach dem Schiff, aber nach mehreren Minuten erst sah sie, daß ein dunkel- rother Schimmer allmälig und wie mühevoll durch den Nebel brach. Das war das Laternenlicht vorn am Bugspriet, und nun wuchs es und wurde ein Feuerauge. Sie konnte den Blick davon nicht abwenden und hatte das Gefühl dabei, daß das noch unsichtbare Schiff ihr etwas bringen müsse. Was? Nun, zum mindesten ein Zeichen aus der Welt.
Endlich schwieg das Läuten, und sie hörte nur noch den Pfiff und das Zischen des Dampfes, der abgelaffen wurde.
Sie schloß das Fenster wieder. Josephine kam, um ihr beim Auskleiden behülflich zu sein, aber Franziska schickte sie wieder fort, weil ihr daran lag, sich ungestört ihren Gedanken und Träumereien überlassen zu können. Alte Bilder zogen herauf und mit ihnen ein Gefühl unendlicher Sehnsucht. Wonach? Wohin? In ihre Kindheitstage zurück? War sie glücklicher gewesen, als sie mit Hannah aus dem Kirchplatze gesessen und hinaufgesehen und die Sterne gezählt hatte? Nein. Unbefriedigt damals wie heute. „Und so haben wir denn nichts sicher, als ein ewig ungestilltes Verlangen?"
Immer leidenschaftlicher und fiebriger drängten sich ihr die Fragen, bis sie zuletzt ermattet einschlief. Aber nicht lange, so war sie wieder wach, warf einen Plaid über und trat auf den Balkon hinaus, auf denselben Gitterbalkon, aus dem sie schon einmal, damals von Angst und Schreck wie heute von Unruhe gepeinigt, gestanden hatte. Der Nebel war fort, eine scharfe Luft zog vom Gebirge her, und sie sog die Kühle begierig ein. lieber einem der bewaldeten Vorberge stand die Mondessichel und an ihr vorüber zogen die Reste der Regenwolken endlos
und in fliegender Hast. Alles war längst still in Schloß und Stadt, nur ein dumpfes Donnern und Brausen traf ihr Ohr, und als sie hinhorchte, woher es komme, sah sie, daß es der unter den tagelangen Regengüssen angeschwollene Bergbach war, der ihr zur Linken über die Klippenwand hin in die Tiefe schoß. Die ganze Waffermaffe lag in Nacht und Dunkel, und nur immer auf Augenblicke, wenn die Sichel drüben ihr Licht herüber schickte, leuchtete der Schaum auf. Aber unausgesetzt hörte sie von der Klippenwand her das eintönig mächtige Rauschen und dazu klang es plötzlich und erinnerungsvoll in ihrer Seele:
„Hörbar rauscht die Zeit vorüber An des Mädchens Einsamkeit."
Es waren dieselben Worte, die damals an jenem ersten Abend in Gräfin Judith's engerem Kreise den alten Grafen entzückt und vielleicht über ihr und sein Leben entschieden hatten.
Vierundzwanzigstes Kapitel.
Franziska hatte nach der unruhigen Nacht länger geschlafen als gewöhnlich, so daß, als sie zu später Stunde erwachte, die Sonne bereits hell in's Zimmer schien. Alles war wie verändert und ihre melancholische Stimmung wie mit dem Regen sortgezogen.
Auch die beiden Kranken hatten sich erholt und gingen unter dem Einfluß des Wetterumschlags ihrer Genesung ersichtlich entgegen. Der Graf saß aufrecht in seinem Feldbett, und Thür und Fenster waren geöffnet, um dem Licht überall Zutritt Zn gönnen. Franziska versäumte nicht, von der so vorteilhaft veränderten Situation auch ihrerseits Nutzen zu ziehen und über das Schiff und das Feuerauge zu berichten, die sie beide bis in ihren Traum hinein verfolgt Hütten. Uebrigens sei sie sicher, daß ihr das Schiff eine Neuigkeit gebracht habe.
„Hat es auch, Fränzl, einen Brief von Judith. Sie kommt und Egon auch, und Beide warten nur noch auf bessere Tage."
Franziska, während der Graf diese Worte sprach, sah vor sich hin und wechselte die Farbe.
„Du freust Dich nicht?"
„O doch, ich freue mich. Und wie könnt' ich auch anders als mich freuen? Du weißt, wie sehr ich die Gräfin verehre, ja, wie sehr ich sie liebe; Wochen und Tage, die sie mir hätte vergällen können, hat sie mir Zu den unvergeßlich glücklichsten gemacht. Ich freue mich wirklich und aufrichtig, und wenn ich doch vielleicht einen Augenblick erschrak, so geschah es in dem Gedanken, aus dieser mir lieb gewordenen Stille plötzlich und unerwartet herausgeriffen zu werden."
Er sah sie scharf an, aber sie hatte durchaus die Herrschaft über sich znrückgewonnen und begegnete ruhig seinem Blick.
„Im Uebrigen," nahm der Gras wieder das Wort, während er unter Papieren umhersuchte, die neben ihm aus dem Tisch lagen, „im Uebrigen hat der Brief an mich auch eine Einlage. Da! Schwester Judith scheint sich wie gewöhnlich nicht ganz kurz gefaßt zu haben. Im Brieseschreiben ist sie noch