Die Erbtante von Johannes van Dcrvall.
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„Da ist der Vetter!..."
Richtig, er war es, der Doktor Rudolph, dessen hohe, stattliche Gestalt aus dem Schatten sich loslöste, in den Lichtkreis trat und still auf seinem Eckplatz in der dritten Reihe Platz nahm.
„Er ist offenbar gelaufen. — Sieh' nur, er wischt sich die Stirn," neckte Marie.
„Er kommt vielleicht von einem Patienten."
„Wie glücklich wird er sein, Dich hier zu finden!"
„Ob er es wird, ist noch sehr die Frage."
„Auf dem Zettel steht Niemand ... ich sehe keinen Bekannten."
„Es kommen auch noch andere Leute auf die Bühne, also Vorsicht."
„Chor und Ballet, — ei freilich, aber davor lebe ich ohne Furcht."
„Du siehst, der Vetter denkt gar nicht an uns,
— er schaut sich nicht einmal um."
„Denn er liest den Zettel und ahnt nicht sein Glück."
„Ich glaube und hoffe aufrichtig, der Vetter sei kein Mann, der sich in das erste beste glatte Gesicht verliebt."
„Du, — dann that es ihm das blaue Kleid an; das wäre noch schlimmer."
„Ich würde es ihm schenken, stillte das sein Verlangen."
„Schweig' still — jetzt geht es los!"
Der Vorhang rauschte empor, das Stück begann.
Unten saß der Doktor, ein wenig erhitzt vom eiligen Gehen, — er war in der That noch bei einigen Patienten gewesen, er liebte es nicht, zu spät zu kommen — und schaute unverwandt auf die Bühne. Dasselbe that Marie, während Elisabeth, trotzdem sie seit Langem diese Oper nicht mehr gesehen hatte, aufmerksam den Vetter beobachtete, allerdings mit ganz anderen Empfindungen und Absichten, als sonst eine junge Dame mit empfänglichem Gemüth einen so imponireuden und wohl aussehenden Herrn zu betrachten Pflegt. Was den ersten Eindruck anbelangte, so hatte ihr der Doktor von allen ihren männlichen Verwandten am besten gefallen, sowohl was sein Aeußeres anbetraf, als vor Allem auch sein ruhiges, bestimmtes und reservirtes Auftreten.
Der war nicht der Mann, welcher sich einer alten Frau gegenüber etwas vergab um ihres Geldes willen, der wahrte seine Würde, der war mit einem Worte ein Mann. Aber er schien ihr ein wenig eingenommen von sich selbst und ironisch. Vielleicht war er ein Spötter, vielleicht sogar hart, wie so manche von den Männern, welche den Verstand allein walten lassen, ohne das Herz... Aber nein — freimüthig und erwärmend war der Schein, der bisweilen aus seinen dunklen Augen fiel, und wie angenehm und sonor der Klang seiner Stimme!
— Er hatte ihr gefallen; sie steckte hurtig ihre Laterne an und suchte wieder Menschen. Bloß das Eine machte sie stutzig, — aber wie viel Neckerei seitens Marie mochte dabei im Spiele sein, — daß Vetter Rudolph, der stolze Frauenverächter, nämlich urplötzlich ein solches Interesse zeigen sollte für eine Person, welche er nur einmal flüchtig im Leben gesehen hatte. — Nicht einmal der mildernde Umstand,
daß sie selbst der Gegenstand dieses plötzlichen Gefallens war, konnte ihr als Entschuldigung gelten, denn wer überhaupt so etwas vermag, der thut und that es schon öfters, der wird es auch wieder thun und mit derselben Leichtfertigkeit, — der war nach ihren Begriffen überhaupt kein zuverlässiger Mensch und nach solchem suchte sie ja eben. Darum richtete sie ihr Glas auf ihn, betrachtete sie ihn mit großer Aufmerksamkeit und vertiefte sich so, daß sie gar nicht einmal den Schalk bemerkte, der in Mariens Augen und um ihren Mund zum Vorschein kam. — Sie studirte Gesicht und Haltung; er war wirklich ein schöner, nein, das nicht, aber ein stattlicher Mann, mit einem guten, charaktervollen Gesicht, der Ausdruck war gewinnend, ruhig, ernst, ein wenig gehoben jetzt. Offenbar entzückte ihn die Musik. Schön gewachsen war er auch, schlank und dabei breit in den Schultern, seine Bewegungen entbehrten nicht einer gewissen Anmuth oder vielmehr Grandezza. Aber darauf kam es ja nicht an, sie wollte sich ja nicht in ihn verlieben, sie suchte nur eine Stütze; er war ja auch ihr Verwandter. — sie wollte nur erspähen, ob er irgend etwas thäte, was ihr mißfiel oder Verdacht gegen seinen Charakter erregte. War er leichtfertig, liebte er heimlich die Frauen, die er offen verleugnete, daun fand sie hier Gelegenheit, dieß zu bemerken, dann konnte sie vielleicht eine oder die andere Entdeckung machen, — sie kannte ja die Männer. Aber der Doktor rührte sich nicht.
Hätte sie es nicht gewußt aus eigener Erfahrung, sie hätte bloß den schönen Reiteroffizier da drüben zu beobachten brauchen, den Beau; der kokettirte nicht nur nach der Bühne hinüber, wo sein pantomimisches Fernsprechen bereits von etlichen jungen Damen bemerkt wurde, sondern hatte offenbar auch Beziehungen im Publikum, und namentlich dort oben, dem Himmel nahe.
„Ich sehe Niemand von unseren Bekannten, selbst nicht beim Chor," unterbrach sie die Freundin endlich in ihren Betrachtungen. „Ich bitte, wollen wir uns nicht ein wenig demaskiren? — Wozu haben wir uns denn sonst so in Gala geworfen? — Was haben wir zu fürchten?"
Anstatt der Antwort schob Elisabeth die grüne Seide etliche Hände breit herunter, während Marie sie ganz entfernte und nun frei, im Hellen Lichte dasaß.
„Er schaut gar nicht aus, Dein Vetter," sprach sie nach einer Weile anscheinend ungeduldig.
„Das gefällt mir von ihm; er geht in's Theater, um Musik zu hören und nicht um Thorheiten zu machen."
Die beiden neuen Erscheinungen, welche ganz allein die Proszeniumsloge inne hatten, wurden sehr bemerkt und betrachtet, und nicht nur aus der Offiziersloge und Hofloge, denn sie waren jung, reizend und distinguirt. Es amüsirte die lebhafte Marie ungemein, ein solches Gefallen zu erregen, ein wenig auch die heute in nachdenklicher Laune sich befindende Elisabeth, doch schienen sie Beide natürlich gar nichts davon zu bemerken.
Als der erste Akt zu Ende war, setzte sich ein unbekannter Herr zu dem Vetter Rudolph unten; sie