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Deutsche Noman-Sibliothek.
t
Roman
von
Johannes van Dewall.
(Fortsetzung.)
Dreißigstes Kapitel.
einem Hellen, sonnigen Novembertage ging eine junge Dame in einem einfachen, dunkelbraunen Anzüge, den Schleier vorm Gesicht, mit schnellen Schritten über die Place Garibaldi in Nizza und bog in die Rne St. Francois de Paul ein, in welcher sich die Post befindet. Sie fragte nach einem Brief, nosts restante, unter der Adresse Marie Werner, und verließ, nachdem ihr ein solcher eingehändigt worden war, mit derselben Eile das Gebäude, um den Blicken der zudringlichen Flaneure aller Nationen Zu entgehen, welche dort hernmlnngern und jedes hübsche Gesicht zum Zielpunkte ihrer zudringlichen Aufmerksamkeiten machen. Marie Werner verfolgte nicht denselben Weg, den sie gekommen war, sondern schritt die Kais längs des jetzt mit schäumendem Wasser angesüllten Bergstroms, des Paillon, hinunter, der sich etliche hundert Schritte weiter unterhalb in's Meer stürzt. An der Mündung desselben, angesichts des Meeres, bog sie rechts über den Pont Charles Albert, passirte den Massena-Kai, den Jardin publique und gelaugte in die ruhigere Nue de France. Hier schritt sie langsamer aus, um wieder zu Athem zu kommen, nahm sich auch Zeit, den Brief Zu betrachten, die Aufschrift zu lesen, ohne ihn aber zu öffnen. Ein Schein von Genugthunng trat dabei in ihre Augen. Sie bog dann abermals rechts ab, in das elegante Villenviertel, in das Quartier de la Croix de Marbre, stieg die Straße langsam ein Stück hinauf und verschwand hinter dem eisernen Gitter eines Landhauses.
Ihr folgend und uns wundernd, wie die Freundin, unsere Heldin, hieher nach Nizza kommt, erblicken wir einen rothen Flecken in dem Grün der Büsche und erkennen den braven John, der mit einem jungen Burschen in Livree spricht, welchen! er offenbar Befehle ertheilt. Dieser trägt eine Stalljacke und im Hintergründe des Hofes erblicken wir Ställe und Wagen.
Die Aufklärung über diese Veränderung bekommen wir am ehesten, wenn wir dem blonden Fräulein ein wenig über die Achsel sehen, wie sie in einem großen, Hellen Gemach am Fenster sitzt, das über die vorliegenden Häuser und Straßen fort die freie Aussicht hat auf das Meer und ein Stück der Riviera, bis zum Schloßberge und dem Vorgebirge Moutboron.
Ohne den Hut abzunehmen, oder die Handschuhe ausznziehen, öffnet Marie Werner den Brief und beginnt zu lesen:
„D., den ..ten November 187..
„ Geehrtes Fräulein!
„Ich mache von dem kostbaren Vorrechte, Ihnen schreiben zu dürfen, sehr bald schon Gebrauch, denn ich bin beunruhigt über Ihre so unerwartet schnelle Abreise von D. und möchte anderntheils gern etwas hören über Ihr Befinden und das von Fräulein Wild, deren Aussehen bei unserem letzten Zusammensein, an dem Dienstag, an welchem sie mir sagte, daß die Ihren darauf beständen, sie wieder zu haben, und wir von einander Abschied nahmen, nicht so frisch war wie sonst.
„Hier befindet sich die Familie Ihretwegen in großer Aufregung. Meine Quelle ist Egon, der einzige von meinen Verwandten, leider, mit dein ich auf einem freundschaftlichen Fuß stehe. — lim offeil Zu sein: man glaubt, die Taute Karoliue habe irgend etwas übel' genommen und sei gewissermaßen in Unzufriedenheit geschieden, trotz ihrer Versicherungen des Gegentheils. Die Abreise, Entschluß und Ausführung kamen gar zu plötzlich. Man will den Grund, die Indier in ein anderes Klima versetzen zu müssen, und die dringenden Londoner Geschäftssachen nicht gelten lassen, — um offen zu sein, ich auch nicht. — Die Familie des Onkel Kourad ist deßhalb in einem Zustande der Bestürzung, den ich Ihnen nicht vorenthalten will. Ein Brief der Tante oder von Ihnen würde die Wolken zerstreuen. Der Onkel Leopold soll in einem Zustande grenzenloser Wuth sich befinden, in Folge dessen die Verwandten schlimmer anfeiuden wie je und sich völlig dem Glauben hiugeben, jene hätten durch allerhand Jn- trignen und Verleumdungen es zu Wege gebracht, daß die Tante nicht bei ihm Wohnung nahm.
„Um aufrichtig Zn sein, und gegen Sie, mein hochverehrtes Fräulein, habe ich ja ein Recht hiezu, da Sie stets so freundlich zu vermitteln und Alles zum Guten zu kehren suchten — der sehr an irdischem Gut hängende Kommerzieurath hat irgendwie erfahren, daß Tante Karoline seinem älteren Bruder die nicht unbedeutenden Schulden bezahlt hat, und behauptet nun, von allen Seiten betrogen, bestohlen und hintangesetzt zu sein.
„Der Onkel ist leberleidend und Geldgier ist eine fast noch schlimmere Krankheit als Hepatalgie, Zum wenigsten nützt dagegen kein Karlsbader Wasser. Wäre er verständig, er könnte sich völlig begnügen mit dem,