Die Erbtante von Johannes van Aervatt.
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gleichem Maße erwiederte. Ich darf nicht indiskret sein, Elise trägt das Herz auch nicht auf der Zunge, sie ist eine mehr innerliche Natur, aber das kann ich Ihnen verrathen, wer meine liebste Freundin erringt, der zieht das große Loos, denn ein herzigeres, edleres Geschöpf trägt die Erde nicht, und Zu Ihrem Tröste füge ich hinzu, — denn wenn der gestrenge Herr Doktor Heine zitiren, muß es schlimm aussehen bei ihm lichterloh! — wen Elise Wild einmal mit den Augen der Liebe angesehen hat, den trägt sie fest im Herzen, deß seien Sie gewiß. — Dieses Herz, welches manche Prüfung erfuhr in: Leben, ist so rein wie ein Spiegel und so imentweiht wie eine thau- frische Rosenknospe.
„Warten Sie also getrost bis zum Frühjahr; wenn Elise erfährt, daß ich komme, wird sie sich einstellen mit der Nachtigall oder den Schwalben, und sind ihre Bekannten nicht dort, so bitte ich die Tante, sie einzuladen. Ihre Gefühle, sowie Ihre Art zu denken haben meinen vollständigen Beifall.
„Mit Elisens Gesundheit geht es gut; Sie haben Recht, Herr Doktor, sie sah Zuletzt etwas blaß aus. Vielleicht lag ihr der Abschied in den Gliedern. Ich mache diese Diagnose, ohne Arzt zu sein.
„Trotzdem Sie nun vergessen haben, mir Grüße aufzutragen, was doch gewiß nicht gegen das Abkommen wäre, das Sie mit Ihrem Gewissen schlossen, werde ich in einem nächsten Briefe Elise solche übermitteln. Solche kleine Coutrebande rechnet nicht und macht doch Freude.
„Ich hoffe bald wieder von Ihnen Zu hören und nur Gutes.
„Die Tante läßt sich Ihnen empfehlen, Sie hält den Herrn Neffen für einen ihrer treuesten Verehrer und ahnt nichts von der Kälte seines Herzens. Ich grüße Sie ebenfalls vielmals und bin mit allen guten Wünschen
Ihre ergebene
Marie Werner."
8. Bitte, lassen Sie die Verwandten noch in dem Glauben, wir seien irgendwo in England. Ihre Tante fürchtet nämlich einen Ueberfall seitens des Kommerzieurathes, wüßte der unsere Adresse."
Am Nachmittage desselben Tages fuhr ein bequemer, offener Wagen langsam den Fahrweg am rechten Ufer des Paillon hinan, zwischen dem Kloster St. Pons und dem malerisch gelegenen Schlosse St. Andre. An einer Krümmung des Gebirgs- wassers, dort, wo der Vaillon de St. Andre sich in denselben ergießt und die Straße steiler wird, stiegen die Insassen des Wagens aus und begannen zu Fuß zu gehen. Wenn ich mittheile, daß John mit hoher, weißer Halsbinde, aber in dunkler, bürgerlicher Livree, die ihm das Aussehen eines Gentleman gab, den Wagenschlag öffnete, wird Niemand in Zweifel sein, wer dieselben waren.
Das Thal verengt sich hier und nimmt einen ernsteren, an einigen Stellen beinahe wilden Charakter an. Das alte Schloß aus dem siebenzehnteu Jahrhundert schließt scheinbar dasselbe ab.
Deutsche Roman-Bibliothek. XII. 17.
Die beiden 'jungen Damen blieben stehen, um zuerst den Rückblick zu genießen auf" das weite blaue Meer und die malerischen Vorgebirge der Riviera, welche rechts und links in steilen Absätzen dasselbe begrenzen. Die Augen mit der Hand beschattend, genoß Elisabeth dieses herrliche Schauspiel, verfolgte sie einige Minuten lang die weißen Schwingen der Segler und einen dunklen Streifen Dampfes am Horizont und sah auf das Spiel der Brandung, die in Hellen Streifen gegen die Küste fchäumte. Ihr Blick hatte dabei etwas Sehnendes, Schwermüthiges, als hätte sie Schwingen haben mögen, wie die Hellen Segel dort unten, um weit, weit von hier sich hin zu versetzen; sie sah ein wenig blaß aus gegen ehemals und müder, aber eben noch so reizend, so herzgewinnend.
Marie beobachtete sie aufmerksam, aber ohne Sorge, denn sie wußte, sie hatte etwas sehr Tröstendes und Belebendes für die liebende Seele in der Tasche.
„Wir werden so braun werden wie die Mulatten, wenn wir hier noch länger stehen bleiben," mahnte sie, „denn hier braten wir mitten in der Prallsonne."
„Welch' wunderbarer Blick! — Ohne die Menschen wäre dieß ein Paradies," sprach Elisabeth ernst, sich langsam herumwendend.
„Sage mit Menschen, Lisel — das heißt, mit den rechten, mit denen, die wir lieben," warf Marie ein, ihren gewöhnlichen heiteren Ton anschlagend. „Du hast ja wahre Klostergedanken."
„Ich gestehe, — so schön es hier ist, die kahlen Hänge, die grauen Oliven und düsteren Cypressen stimmen mich traurig. Dieses Italien ist überhaupt eher ein melancholisches, als ein heiteres Land."
„Nun, da unten am Strande und im Kasino wird diese Ansicht sicher nicht getheilt. Das liegt aber bisweilen so im Menschen . .. Ereignisse werfen ihre Schatten voraus."
„Wie verstehst Du das?" fragte Elisabeth stehen bleibend.
„Ich meine nur so, mein Herz — es fuhr mir gerade durch den Kopf," antwortete Marie ausweichend und bückte sich unbefangen, um eine verspätete Blume zu pflücken.
Man gelangte langsam steigend und oftmals stehen bleibend und zurückschauend zum Schloß, fand aber dort geräuschvolle Gesellschaft, ein zugehöriges Wirthshaus und beeilte sich, es wieder zu verlassen.
Eine dunkle Cypressenallee führt vom Schloß in etlichen Minuten zu einer Grotte, Iss selusss äs 8t. ^Mrs, eine natürliche Felsenbrücke, welche über das kleine Gebirgswasser führt, das den Stein unterwaschen und durchbrochen hat. Hier war es einsam und kühl, hier setzten sich die beiden Freundinnen neben einander auf eine Bank, schweigsam und ein wenig außer Athem.
„Welch' ein eigenes Ding es um das Dasein ist!" begann plötzlich Elisabeth nachdenklich. „Und wie seltsam und undankbar der Mensch doch ist," fuhr sie nachdrücklicher fort, „daß er sich an das Gute so schnell gewöhnt und, das Glück des Augenblicks mißachtend, sich verliert in der Vergangenheit oder sich hinaus in die Zukunft träumt."
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