Heft 
(1885) 35
Seite
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Sherwood von Julius Grosse.

stieg ein dichter Qualm oder Nebel empor. Niemals Zuvor schien mir das traurige Rußland so idyllisch und interessant.

Wir fuhren ohne Aufenthalt ununterbrochen Meilen um Meilen. Da es Frühlingsausgang war, brach die Nacht erst spät herein, aber sie schien mir mit ihren klaren Sternen wie eine heilige Weih- nachtsuacht. Mit Tagesanbruch wurde die Gegend lieblicher. Ferne Höhenzüge erschienen mit laub­reichen Wäldern, in meilenweiter Ferne blitzten die goldenen Kuppeln einer Stadt im Morgenroth. End­lich bogen wir in einen Föhrenwald ein. Bald wechselte das Nadelholz mit Espen, Birken und Buchen, ein blauer See mit wehendem Schilf wurde sichtbar, und gleich darauf lag das stolze Herrenhaus von Stanitza Tarufsa vor uns.

In kühnem, elegantem Bogen fuhr die Telega vor der Paradetreppe vor. Sofort erschienen mehrere Diener aus dem Erdgeschoß und an ihren Armen wurde der noch immer schlaftrunkene Gebieter in das Haus geleitet.

Oben im Vorsaal eilten ihm zwei erwachsene Töchter entgegen und begrüßten den Vater mit lauter Freude. Ich wurde unbemerkt Zeuge einer rühren­den Szene des Wiedersehens. Meine Erwartungen waren, ich weiß nicht, warum, hochgespannte gewesen; dennoch blieben sie hinter dem blendenden Eindruck zurück. Solche Schönheiten waren mir im ganzen Leben bisher noch nicht vor Augen gekommen. Von dieser Stunde an pries ich meinen Stern, und Ruß­land, das mir so wehe gethan, erschien mir jetzt als das glückseligste Land.

Nach der ersten Freude des Wiedersehens wandte sich Uschakoff zu mir und stellte mich seinen Töchtern als Lehrer der englischen Sprache vor.

Meine ehrfurchtsvolle Verbeugung wurde von ihnen mit einer leichten, graziösen Reverenz erwiedert und darauf dem Haushofmeister Befehl ertheilt, mir das Zimmer einzuränmen, welches mein Vorgänger bewohnt hatte eigentlich meine Vorgängerin, denn es war eine Gouvernante aus Genf, die Knall und Fall entlassen worden war, weil sie, wie ich später erfuhr, sich in eine Herzensangelegenheit der älteren Schwester eingemischt hatte; doch davon werde ich später noch ausführlicher zu berichten haben.

Seit jenem Tage war ich der unzertrennliche Gesellschafter meiner reizenden Schülerinnen. Sie hatten ihre Mutter verloren und standen unter der Aufsicht einer alten Verwandten, Sascha, die fast nie aus ihrem Zimmer kam. Den Vater, der auf seinen weitläufigen Besitzungen, auf Jagden und Versamm­lungen viel zu thun hatte, sahen wir nur des Mit­tags und Abends und auch das nicht täglich. Er bekümmerte sich damals nur wenig um uns.

Auch sonst fehlte es nicht an originellen Ge­stalten auf dem Herrensitz. Da war zuerst eine Art Faktotum, ein früherer Kosak Kuzmin, der Mittags mit einer Trompete das Zeichen zur Tafel gab und Abends die Balalaika spielte; ferner Iwan, der Wolfs­fänger und Otternjäger; endlich mehrere Verwalter, Forstausseher und ein alter Friseur, ein Franzose, der im Jahr der großen Retirade gefangen worden und seitdem hier geblieben war.

Wie soll ich nun das Weitere berichten, um Ihnen ein klares Bild zu geben und doch Niemand zu nahe zu tretend

Es ist wohl kaum zu verwundern, daß unser Verkehr sehr bald ein intimer wurde. Die volle Freiheit, uns jeden Augenblick zu sehen, der Vor­theil, wenn Andere zugegen, uns in einer fremden Sprache zu verständigen, die Enge des Landlebens und seine Abwechslung wir ritten und fuhren durch die weiten Forsten und Felder, ruderten auf Gondeln zu den einsamen Inseln der Seen, schossen nach der Scheibe und trieben Musik alles das half uns rasch zu Vertrauten machen.

Beide Schwestern, so unähnlich einander wie möglich, waren von bezaubernder Schönheit. Tatiana, die Aeltere, brünet und von einer gewissen Nach­lässigkeit der Haltung, schien meist von Schwermuth und Trauer überschattet, sie hatte bereits eine schwere Prüfung erfahren. Die Jüngere dagegen, Nadjeschda, blauäugig und braunlockig, war von ungebändigtem, lebhaftem Temperament, dabei doch von jungfräu­licher Scheu und naiver Anmuth. Was soll ich es verhehlen, daß sie es bald mir augethand

Obschon ich keinen Augenblick die Schranke ver­gaß, die zwischen uns bestand, gab ich mich doch widerstandslos manchem schönen Traume hin. Wir lasen Shakespeare's ,Romeo', Byron's ,Korsar' und ,Braut von Abydos' und Burns' schottische Lieder. Und so berauschten wir uns im Born der Poesie, die uns das wirkliche Leben zu einem phantastischen Reich der Abenteuer machte. Doch ich müßte Ihnen einen ganzen Roman erzählen, wie allmälig Alles gekommen."

Das lassen Sie nur," unterbrach ich Sherwood. Ich kann mir das Weitere schon denken. Sie haben als ein Schurke gehandelt!"

Doch nicht, Herr Oberst," sagte Sherwood. Ich habe Zwar dem Himmel zu danken, daß er mir das süßeste und unverhoffteste Glück bescherte, aber ich habe keine Ursache irgend einer Reue, denn meine Absichten waren und sind noch die ehrenhaftesten.

Hören Sie also weiter. Das Wunderliche war, daß meine Leidenschaft für Nadjeschda von ihrer älteren Schwester gleichsam protegirt wurde, seit ich einmal ihre Partie genommen. Dieß hing so zu­sammen: Um Tatiana hatte sich vor Jahresfrist ein junger, reicher Kavalier beworben, der als entfernter Verwandter auf dem Gut zu Besuch war. Ich darf seinen Namen aus gewissen Gründen nicht nennen, er ist heute noch Artillerieoffizier in Charkow. Um sich Tatiana zu nähern und eine Vertraute zu ge­winnen, hatte er anfangs der Gouvernante den Hof gemacht. Diese, eine intrigante Person, die Carriore machen wollte, faßte selbst eine tolle Leidenschaft zu dem vornehmen Herrn und bezog alle seine Auf­merksamkeiten ans sich.

Als er schließlich doch um Tatiana warb und ihr Jawort errang, wurde sie in blinder Wuth Zur Verrätherin und zwar der politischen Gesinnungen des Kavaliers. Sie hatte aus seiner Korrespondenz er­fahren, daß er ein Revolutionär und einer geheimen Gesellschaft angehörte, die angeblich den Umsturz des Thrones und die Vernichtung des Hauses Romanow