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Deutsche Nornan-Sibliothek.
Mehr als ein Monat verging, bevor er zum Regiment zurückkehrte. Die Mühle war glücklich in Stand gesetzt und Sherwood's Geschicklichkeit höchst anständig honorirt worden. Hierauf ging er wieder mit früherem Eifer an feine Geschäfte in der Kanzlei, besuchte mich täglich und wandte Alles an, mir seine Ergebenheit und Dankbarkeit zu beweisen.
Trotzdem fiel mir schon damals eine sonderbare Veränderung in Sherwood's Benehmen auf — eine gewisse Befangenheit, etwas Geheimnißvolles und in seinen Reden eine gesuchte, rüthselhafte Zweideutigkeit. Dabei nahm er den Mund voll wie Einer, der mit großen Unternehmungen umgeht, und erlaubte sich bisweilen auch gegen mich einen übermüthigen Ton.
Ich glaubte mich in meinen Eindrücken zu täuschen, schob aber die Ausführung jenes Projekts, seine Gattin kommen zu lassen, einstweilen auf, zumal sich eine neue Gelegenheit bot, Sherwood abermals zu einer wichtigen Mission zu verwenden.
Nämlich: Gegen Oberst Gwers II. vom Charkow'- schen Ulanenregiment, dem Bruder unseres Kommandeurs, war auf Grund einer Denunziation eine Untersuchung eingeleitet, die, da die meisten Offiziere gegen ihn Partei nahmen, eine ungünstige Wendung zu nehmen drohte.
In dieser Bedrängniß kam Gwers II. zu seinem Bruder, das heißt zu uns, mit der Bitte, ihm einen guten, gesetzkundigen Sachwalter zu empfehlen.
Sein Bruder, von Natur indolent und schwerfällig in allem Geschäftlichen, war wenig über den Ruhestörer erfreut, und um ihn los zu werden, wies er ihn an uns.
Aus dein ganzen bisherigen Gange des Prozesses erkannte ich, daß es zu seiner Rettung zunächst Nothwendig sei, die Handlungen der Untersuchungskommission aufmerksam zu überwachen. Und bei dem Gedanken, wer dazu am geeignetsten, kam mir abermals Sherwood in den Sinn.
Er war einschlägig, schlau, ein Meister im Spio- niren und durchaus nicht ohne juristische Kenntnisse. Einen besseren Sachwalter konnte ich nicht Vorschlägen, und Oberst Gwers II. nahm ihn auch sofort mit nach Wosnessensk, wo der Stab seines Regiments stand.
Bei diesem zweiten Abschied benahm sich Sherwood ganz sonderbar, ich möchte sagen feierlich.
„Herr Oberst," sagte er, „ich danke Ihnen. Sie stoßen mich auf die Bahn des Ruhms. Große Dinge werden geschehen, meine Schwüre sind unvergessen. Sollten Sie von mir hören, denken Sie nicht schlecht von mir. Dießmal Alles oder Nichts!"
Ich hielt diese Redensart für hohle Prahlerei und ließ ihn ziehen.
Nun aber vergingen Wochen und Monate und Sherwood kam nicht mehr zurück. Obgleich ich bereits vernommen hatte, daß der Prozeß zu Gwers' Gunsten entschieden sei, Sherwood war und blieb verschollen. Möglich, daß ihn die Sehnsucht nach Weib und Kind nach Smolensk getrieben in die Arme der Seinen, die er so lang schon entbehrte. Das war verzeihlich und natürlich, und würde ich ihm zu diesem Zweck gern einen längeren Urlaub gewährt haben. Möglich aber auch, daß ihn ein neues Abenteuer gefesselt, oder daß er überhaupt der Versuchung zu desertiren bei dieser Gelegenheit nicht widerstanden; kurz, ich bereute es fast, mich mit diesem Unberechenbaren eingelassen und ihm so viel Theilnahme geschenkt zu haben, ja, ich beschloß, mir diesen Menschen und seine Angelegenheit ganz ans dem Kopf zu schlagen.
Gab es doch viel wichtigere Dinge, die alle Ge- müther in Aufregung erhielten und die Lust mit besonderen Gerüchten erfüllten.
Zuerst die Entlassung vieler Professoren in Kasan und Reval, dann die Maßregeln gegen alle Studenten, die irgend einer Gesellschaft angehörten, die unerhörteste Censur gegen die Presse und Wissenschaft. Die Professoren durften nur nach approbirten Handbüchern lesen und mußten ihre Konzepte einreichen. Die Direktion des geistlichen Unterrichts ließ in allen Seminarien, Schulen, Klöstern und bei Privaten alle Bücher über Religion konfisziren und versiegeln, bis der heilige Synod sie geprüft. Alles dieß und die ganze Wirtschaft des allmächtigen Ministers Araktschejef war nur ein Vorspiel des Kommenden.
Bei Grusino hatte ein Hausen von Kranbauern und Leibeigenen den Kaiser auf der Reise angehalten und mit stürmischen Beschwerden überfallen, ohne nur angehört zu werden. In den meisten Militär- kolonieen des Nordens und Südens und besonders an der polnischen Grenze Zeigte sich ein rebellischer Geist; mehrere Kuriere und Untersuchungskommissäre waren auf geheininißvolle Weise verschwunden.
Die Kunde, daß eine allgemeine Verschwörung existire und der Umsturz bevorstehe, wurde immer allgemeiner, ohne daß Jemand die Quellen dieser Gerüchte entdecken konnte. Vergebens war eine Legion von Spionen über Rußland verbreitet, aber sie bewirkten nichts, als daß der Verkehr selbst mit den nächsten Freunden und Kameraden unerquicklich ward. Keiner traute mehr dem Andern, und das Gefühl der Unsicherheit der nächsten Zukunft wie alles Bestehenden lag wie eine schwere, unheimliche Wolke über ganz Rußland.
(Fortsetzung folgt.)