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Deutsche Noinan-Bibliothek.
herwooö
Roman
von
Irrkiirs Krosse.
(Fortsetzung.)
Drittes Wirch.
.eit den letzten Enthüllungen Sherwood's waren wieder mehr als zwei Monate vergangen. Die bunten Zerstreuungen des Militärlebens und meines Amts, die tausend Ansprüche des Tags und der Gesellschaft hatten jene Mittheilungen bald in den Hintergrund gedrängt.
Trotzdem blieb mir die Nachwirkung jener Aufschlüsse unaufhörlich fühlbar, besonders in den einsamen Stunden der Nacht, und meine Ruhe war dahin.
Dieser Mensch, so begabt, so liebenswürdig und interessant einerseits — und andererseits so verschlagen, gewissenlos und gefährlich; sein Charakter wurde mir immer unbegreiflicher, je wichtiger seine Persönlichkeit geworden war. Ehrlos und verdammens- werth bleibt gewiß jeder Denunziant, der aus sicherem Hinterhalt das Glück und Leben von Hunderten Zu opfern im Stande ist. — Aber andererseits mußte ich mir sagen: „Hier steht das Leben des Kaisers, die Ruhe des Reichs auf dem Spiel, und die Scheidegrenze, wo auch Verrath zur heiligen Pflicht werden kann, ist überschritten. Was man Ehre und Schande nennt, ist meist nur konventioneller Begriff, den die Welt prägt, aber die höchste Zurechnung jener moralischen Mächte der Vorsehung urtheilt nach anderem Maßstabe, als nach weltlichem Codex."
So tief meine innere Empörung gegen den Ver- rüther, so widerwillig war auch meine Bewunderung seiner Kühnheit, die es wagte, den Kampf mit den Mächtigsten auszunehmen — und unvergeßlich vor Allem blieben mir seine Worte: „Machen Sie mich zu einem glücklichen Menschen, und ich bin auch ein guter Mensch!"
Sherwood befand sich in dieser Zwischenzeit viel auf Reisen und ließ sich nur selten bei mir sehen. Mochte er denn sein Glück schmieden und im Dienst des Friedens arbeiten. Ich ließ ihn gewähren, ohne mich weiter um ihn zu kümmern.
In dieser Zeit war ich eines Abends, wie allwöchentlich bisher, nebst anderen Offizieren des Regiments bei unserem Kommandeur zu Gast. Das Gespräch bewegte sich selbstverständlich um die schwebende Frage der ausgeschobenen Revue in Belaja Tscherkow, die mancherlei Vorbereitungen nöthig gemacht hatte. Truppenmärsche waren angeordnet und widerrufen worden. Gleichwohl blieb die Ungewiß
heit. Dazu verlauteten allerlei drohende Gerüchte von Unruhen in Petersburg. Thörichte Menschen deuteten einen Kometen, der seit einigen Wochen sichtbar war, als Vorboten düsterer Ereignisse und unausbleiblicher Umwälzungen. Ueberhaupt schien das Siegel von den Lippen der Menschen genommen zu sein. — Auch in den höheren Gesellschaftskreisen war eine wachsende Gährung bemerklich. Die liberalen Ideen des geheimen Bundes machten reißende Fortschritte, selbst unter den loyalsten und bewährtesten Anhängern der bestehenden Ordnung. Alle, auch die wohlwollendsten Verfügungen der Regierung, wurden getadelt und als Willkürakte des Despotismus verworfen.
Nach Sherwood's Bekenntnissen waren mir allein die unsichtbaren Hände bekannt, welche den glimmenden Brand schürten und die öffentliche Meinung mehr und mehr aufzuregen bemüht waren. Mit schwerer Besorgniß sah man allgemein einer unvermeidlichen Katastrophe entgegen, und Sherwood's anmaßende Versicherung, daß er allein die kommenden Gefahren ablenken werde, erschien immer mehr als eine hohle, verwegene Prahlerei. Von ihm war sicher wenig oder nichts zu erwarten.
Wie ein Alarmschuß wirkte deßhalb die plötzliche offizielle Kunde, daß die Revue für dieses Jahr zwar endgültig abbestellt, daß aber der Kaiser dennoch ganz Südrußland und besonders die Militärkolonieen besuchen wolle und zwar in kürzester Frist; denn gleichzeitig verlautete, daß der ganze Hof mit großem Gefolge schon vor vierzehn Tagen von Petersburg aufgebrochen und längst schon unterwegs sei. — Daß der Kaiser seine leidende Gemahlin nach Odessa oder nach Taganrog am asow'schen Meer geleiten werde, nahm man nur als Vorwand seiner eigentlichen Absichten.
Diese Nachricht verbreitete sich mit Blitzesschnelle und gab zu den abenteuerlichsten Vermuthungen Anlaß. Man fabelte von Palastiutriguen in Petersburg, von heftigen Auftritten mit dem Minister Araktschejef, ja selbst von entscheidenden Schritten des Kaisers gegen alle Militärkolonieen.
Unser gesammtes Offizierskorps wie die ganze Abendgesellschaft beim Kommandeur Gwers befand sich in höchster Aufregung, denn nun war dennoch der Besuch des Kaisers wahrscheinlich und unmittelbar bevorstehend.
Der Scharfsinn eines Civilbeamten ging noch weiter.
„Geben Sie Acht, meine Herren," rief er, „das gibt Krieg gegen den Großtürken. Der Kaiser wird