Sherwood von Julius Grosse.
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Stelle verloren und in ziemlich dürftigen Verhältnissen lebe. Ueb'rigens sei er ganz von seiner Frau Werotschka abhängig, die in ihrer großen Wohnung hie und da fremde Leute beherberge. Von einer Frau Sherwood oder einer Tochter des alten, wohlbekannten Uschakoff wollte Niemand etwas wissen.
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Endlich am Mittag des zweiten Tages gelang es mir, mich von meinen Freunden loszumachen und das bezeichnet Haus am Dnieprkai aufzusuchen.
Da ich noch am selben Tage abreisen wollte, ließ ich meinen Schlitten mit meinem Gepäck in der Nähe der nächsten Brücke halten.
Das Haus war keins von den neugebauten, wie überhaupt hier am Ende der Zeile noch die meisten alten Baracken standen. Aber unter diesen windschiefen, von Rauch, Zeit und Wetter gebräunten Block- und Fachhäusern war das bezeichnet das ansehnlichste, auch das weitläufigste mit seinen Anbauten, Seitenflügeln und Hintergebäuden, Zwischen denen kleine, schmutzige Höfe lagen.
Das langgestreckt Hans hatte nur zwei Stockwerke, aber eine Menge von Fenstern mit grasgrünen Fensterläden und war auch mit grünen Schindeln gedeckt. Im Erdgeschoß befanden sich mehrere Boutiken von Kleinkrämern, die mir bald den rechten Weg wiesen.
Nachdem ich durch einen dunklen, langen Flur getappt, stieg ich endlich eine ebenso finstere Treppe empor. Ein unsagbarer muffiger Geruch von Theer, Oel und Leder, Hanf, Talg und geräucherten Fischen erfüllte alle Räume. Oben verstärkten sich diese betäubenden Düfte noch in anderer Weise. Aus einer Höhle von Küche strömte mir brenzlicher Qualm entgegen, und ich bemerkte eine Person, die bei prasselndem Feuer an brodelnden Kesseln beschäftigt war — aber bevor ich mich noch genähert, wurde die Thür zugeschlagen. Gleichwohl hatte ich das Glück, der Frau Werotschka Jakouschin sozusagen in die Arme zu laufen. Sie kam eilig aus einem Seitengang und schien auf Jemand zu warten.
„Kommst Du endlich, kommst Du endlich, alter Eisbär? Nun, das hat lang gedauert."
Als sie mich, den Fremden, bemerkte, prallte sie zurück und unmittelbar darauf fuhr sie mich mit wenig höflichen Worten an, wer ich sei und was ich wolle.
Das Licht eines schmalen Hinterfensters fiel grell auf die Gestalt und beleuchtete sie in ihrer ganzen Herrlichkeit. Es war eine breite, korpulente Person von gelblicher Gesichtsfarbe und weißgrauen Haaren, mit grünen, intelligenten Augen und hundert kleinen Fältchen, die wie ein Spinngewebe über das ganze Gesicht liefen. Eine alte Sammetjacke mit defektem Pelz umschlotterte die robuste Gestalt, die mit ihren Filzsocken und dem bunten Tuch, das sie um den Kopf geknüpft trug, unleugbar einen grotesken Eindruck machte, besonders wenn man die volubile Bruststimme hörte.
Nachdem ich meine Frage gestellt, ob hier der Steuerrevisor Jakouschin wohne, wurde sie etwas höflicher.
„Zu dienen, Gospodin, aber Väterchen ist nicht zu Hause. Väterchen macht Kommissionen in der Stadt und wenn er auch kommt, ist er für Niemand zu sprechen."
„Das ist auch nicht meine Absicht," sagte ich, „aber wenn ich recht berichtet bin, soll hier eine Frau Sherwood wohnen, eine geborene von Uschakoff."
„Frau Sherwood — sehen Sie einmal — so, so, Sie wollen zu Frau Sherwood?" und sie betrachtete mich mißtrauisch prüfend. „Sind wohl Einer von den Zudringlichen. Nichts da, Gospodin. Wir sind ehrliche Leute, Herr; oder sind Sie ein Verwandter von ihr? Auch dann machen Sie sich keine Hoffnung."
„Kein Verwandter, aber ein Bekannter ihres Mannes in Novomirgorod. Oberst vom Ulanenregiment — kennen Sie die Uniform nicht?" — und ich schlug meinen Reisepelz auseinander.
„Ah, was Sie sagen, Herr General!" rief sie mit grinsender Freundlichkeit. „Entschuldigen tausendmal, Euer Hochwohlgeboren, aber es ist so dunkel hier, daß man keinen Stich sieht — so, so — ans Novomirgorod — und vom lieben Männchen." Dabei aber blieb sie immer noch stehen.
„Darf ich bitten, Frau Jakouschin, melden Sie mich bei Frau Nadjeschda."
„Ganz gern, Gospodin, ganz gern — haben Sie vielleicht ein Brieschen vom Männchen? — das wird sie freuen, die gute, liebe Seele. Geben Sie nur her, und wenn Sie sonst etwas auszurichten oder zu bestellen haben
Jetzt wurde es mir zu viel. „Sie hören, Frau Jakouschin, ich muß sie selbst sprechen, also keine weiteren Umstände!" Und ich machte Miene, mir den Eintritt zu erzwingen.
„Heilige Mutter Gottes von Kasan, was Sie stürmisch sind, Gospodin! Ich bin ganz zu Ihren Diensten, aber das geht nicht so rasch. Nein, nein — wer Sie auch sein mögen, Herr General, aber Frau Nadjeschda hat auch mitzureden, und die läßt Niemand vor, Niemand in der Welt!"
„Das wollen wir doch sehen, Frau!" rief ich; denn es war klar, daß sie nach Ausflüchten suchte, um mich abzuweisen. „Und somit erkläre ich Ihnen rundweg, daß ich bleiben werde und wäre es die Nacht durch, bis ich Frau Sherwood gesprochen. Im schlimmsten Fall würde ich Beistand holen beim Gorodnitschi. Das werden Sie nicht wollen."
Da zitterte die Frau am ganzen Leibe, und ihr Mühlwerk kam in's Stocken. „Mein Gott, so lassen Sie doch mit sich reden, Gospodin. Wenn's denn sein muß, so wollen wir es versuchen. Aber wer weiß denn, ob Frau Nadja im Stande ist, Sie zu sehen? Die liebe gute Seele, die liebe gute Seele! — Nach dem schweren Unglück, nach all' dem Herzeleid — ja, das erlebt man nur einmal ... Daß Sie auch gerade heut kommen müssen, gerade heut!"
„Von welchem Unglück reden Sie? Ist der armen Frau etwas zugestoßen?"
„Ihr — nein, Gott sei Dank, nein. Aber wollen Sie nur entschuldigen. Bitte, treten Euer Hochwohlgeboren hier herein und stoßen Sie sich nicht an den Kopf. Dabei öffnete sie einen langen finstern Gang, in dem Kisten, Körbe und Fässer standen, zugleich