Sherwood von Julius Grosse.
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Draußen war das Gelage zu Ehren der kleinen Aunuschka schon in vollem Gange. Nach ehrbarer russischer Sitte beginnt man damit freilich erst, sobald die Leiche aus dem Hause und beerdigt ist. Aber in dieser barocken Wirthschaft nahm man dieß nicht so genau, und die Ungeduld der durstigen Zechbrüder und Gevattern ließ sich nicht erst bis Zur Erledigung der Ceremonie vertrösten.
Es war ein unbeschreibliches Bild, das sich meinen Augen bot, häßlich und buntscheckig und bei alledem so lächerlich grotesk, daß eine Zeitlang selbst der Widerwille ausgewogen wurde.
Mitten aus dem Tische brodelte der Samowar, ringsum von zusammengeborgten Tellern, Gläsern, Leuchtern und Lampen umgeben, die man bereits angezündet hatte, obwohl es noch Tag war. Verschwenderisch waren die Vorräthe von kaltem Fleisch, Fischen, Kaviar, dazu Schüsseln von süßer Grütze und Piroggen, die mit unglaublicher Schnelligkeit verschwanden.
Und rings um die lange Tafel eine Gesellschaft, so gemischt und phantastisch, daß auch der unheilbarste Hypochonder Stoff Zum Lachen gefunden hätte, wäre der Anlaß nicht ein so trauriger gewesen. Aus dem Hause selbst waren mehrere Handwerker mit struppigen Bärten anwesend. Der Zimmermann, der den Sarg gemacht, der Lichtzieher, der die Kerzen geliefert, dann der Fischhändler und Gewürzkrämer, dem das Haus gehörte, mehrere Frauen, auch mit altrussischem Kopfputz, kleine Stadtbeamte, Winkelschreiber und Handelsmäkler, die in dem weitläufigen Komplex der Anbauten wohnten, in der Mehrzahl haarbuschige, blaunasige, vierschrötige Gesellen, die ihre Gläser schwangen, mit Riesenkraft aßen oder vor sich hinstierten, während die Weiber durcheinander schnatterten, der kleinen Aunuschka Klugheit und Anmuth und letzte Krankheit besprachen und ihre, sowie die Schönheit ihrer Mutter in den Himmel hoben.
Gerade als ich eintrat, hatte sich am unteren Ende der Tafel ein Streit erhoben. Einige jener Hausleute, der Fischhändler oder der Lichtzieher, gehörten zu der Sekte der Naskolniken, die sich bekanntlich weder Haar noch Bart scheeren. Dieser Umstand weckte den Spott und Widerspruch eines fremdländischen Friseurs, der überhaupt den meisten Lärm vollführte.
In diesem kleinen, quecksilberigen Franzosen lernte ich Monsieur Parchemin kennen, von dem mir schon Sherwood erzählt hatte und der hier die Rolle des Aristokraten und zugleich des Revolutionärs, im klebrigen die eines Nnltrs äo Mimr spielte. Wie ich später erfuhr, hatte dieser flotte, erfinderische Bursche, seit er in Smolensk aufgetaucht war, zuerst eine Friseurbude eröffnet und war jetzt im Begriff, eine Chirurgenwittwe zu heirathen, die mit Blutegeln und Pflastern ein schwungvolles Geschäft trieb. Dieses neue Rosenjoch verhinderte ihn, die bisherigen Funktionen als Faktotum und Mentor bei Frau Nadjcschda fortzuführen, die er in den schlimmsten Tagen bisher nach Kräften treu und ritterlich beschützt hatte.
Jetzt war er im Namen der Civilisation mit
den Naskolniken im Streit wegen ihrer barbarischen Haarsülle; aber seine begeisterten Tiraden erregten nur Gelächter, so daß er den Beistand eines anwesenden Popen anries, der neben ihm saß und mit Weisem Kopfnicken allemal Dem Recht gab, der zuletzt geredet hatte.
Das ganze Treiben war für mich so wenig anziehend, daß ich es vorgezogen hätte, zu gehen, wenn mich nicht meine Sorge um Frau Nadjeschda festgehalten. Es schien mir wichtig, ihre ganze Umgebung kennen zu lernen und dabei zu erwägen, ans welche Weise ich sie am raschesten aus diesem Abgrund des Elends und schlimmerer Gefahr erlöseil könnte.
Gleich als ich mir in der Nähe der Thür einen Platz suchte, hörte ich etwas, das alle meine Befürchtungen bestätigte.
Oben an der Tafel mit dem Rücken zum Fenster saß nämlich ein Herr, den ich gestern erst auf dem Pferdemarkt flüchtig kennen gelernt, der Gutsbesitzer Poggio aus Kamenka. Ich hatte von seiner Existenz überhaupt nur durch Sherwood Kenntniß, wußte demnach, daß er Zu den Verschworenen zählte, und ferner, daß er seinen Paß in's Ausland bereits in der Tasche hatte. Nach dem Wenigen, was ich gestern von ihm erfahren, war es ein lockerer Lebemann, ebenso reich und gewissenlos, ein Wüstling, der seinerzeit die hohe Schule des 8avow vivro in Paris ab- solvirt hatte. Was hatte dieser Geselle hier zu suchen?
Deutlich hörte ich während des allgemeinen Lärms, wie er Frau Werotschka zuflüsterte: „lüll bteo, ist die Heilige noch unsichtbar? Dann hätten wir uns das ganze Fest sparen können."
„Was denken Sie, Sudar?" zischelte die Alte. „Alles will seinen Lauf haben, Fieber und Feldhasen und Platzregen.' Lassen Sie nur erst das Kind unter der Erde sein."
„Schon gut, aber die Zeit wird knapp. In zwei Tagen müssen wir über der Grenze sein, sonst kann doch noch der Teufel sein Spiel haben. Und ob sie mitreisen wird? Haben Sie schon aus den Busch geklopft?"
„Nur Geduld, Gospodin," sagte die Alte wieder. „In Kleinrußland werden die Aepfel später reif, aber sie werden reif. Reden konnte ich noch nicht, das Hühnchen ist ja wie von Sinnen, scheint auch noch ältere Freunde zu haben." Dann flüsterte sie weiter mit einem Seitenblick auf mich. Ich wußte, daß sie jetzt von mir sprachen, merkte auch, daß ich als ein unverhoffter Konkurrent bezeichnet wurde.
Dann entfernte sich Frau Werotschka wieder schleunigst, denn meine Beobachtung schien ihr doch gefährlich zu werden. Herr Poggio, beiläufig ein eleganter, sogenannter schöner Mann von südlichem Typus, schoß mir einen forschenden Blick zu. Er schien mich zwar zu erkennen, wußte aber offenbar nicht, wohin er mich thun sollte, und erkundigte sich flüsternd bei seinen Nachbarn, die ihm auch keine Auskunft geben konnten.
Inzwischen hatte mich der würdige Nikolai Jakouschin in Beschlag genommen mit aller bärenhaften Zuthunlichkeit, deren er fähig war, und mit aller