Aherwood von Julius Grosse.
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Sie mir die Hand, oder haben auch Sie den Stab über mich gebrochen? Das würde mir wehe thun."
Frau Ustinja Smirnoff machte große Augen und schlug vor Staunen die Hände zusammen. Dann aber küßte sie Frau Nadja beide Hände und erschöpfte sich in hundert Zärtlichkeiten, als habe sie selbst ein verlorenes Kind wiedergefunden. Aber nun kam in der That die Nachwirkung der letzten Erlebnisse, wie der winterlichen Kälte nach. Frau Nadjeschda zitterte bald in Frost, bald in Fieberhitze und mußte sofort zu Bette gebracht werden. Da kein Arzt zu haben, war ich in Sorge, aber Batjnschka Smirnoff kramte sofort in einem ungeheuren Schranke, der seine Hausapotheke enthielt, Zwischen allerhand Schachteln und Büchsen, welche Kräuter und Theesorten enthielten.
Inzwischen nahm ich seine würdige Frau Ustinja beiseite und bat sie, sofort aus das Schloß Zn schicken und unter irgend welchem Vorwand die alte Sascha, oder wenn möglich Comteß Tatiana selbst holen zu lassen, aber empfahl zugleich alle Vorsicht und nichts von der Ankunft Frau Nadja's zu Verrats» en.
„Aber das wird ja kaum nöthig sein," sagte sie, „Batjnschka Wassili erwartet ohnehin das Fräulein, die kann jeden Augenblick kommen. Wie war's denn, Wassili, wollte sie nicht noch einmal beichten oder Rücksprache nehmen wegen der Dränung morgen? Da gibt's ja noch viel ansznmachen — nicht wahr! Aber Frau Nadja, mein armes Hühnchen, mein armes, süßes Kind, wer Hütte das erwartet, aber nur Math, gleich wird der Thce fertig!" Und abermals floß der unaufhaltsame Strom ihrer redseligen Güte.
Eine Minute später war ich mit dem würdigen Popen allein, der mir mit staunender Freude die Hände schüttelte, als er in mir seinen Schüler von der Kriegsschule erkannte.
Aber freilich, als ich nun mein Anliegen in Betreff Frau Nadjeschda's vorbrachte, auch in Kürze von ihrem Geschick erzählte, erschrak der alte Herr nicht wenig und wurde sehr ernst. „Das ist ein böser Zwischenfall," sagte er salbungsvoll; „aber wer von uns darf den ersten Stein heben! Fern sei es von mir, Zu richten. Der Herr im Himmel fügt Alles in seiner Langmuth und hat mehr Frende an Reuigen als an den Gerechten. Und wer weiß auch sonst. Es liegen so schwere Lasten auf uns, daß die kleinen Sorgen in den großen verschwinden. Vielleicht ist es gut so, daß Frau Nadja gerade jetzt kommt, denn es ist Keiner unter uns, ob hoch oder niedrig, der nicht die schweren Prüfungen empfindet, die uns der Himmel anferlegt."
Diese nur unverständliche, halb geheimnißvolle Andeutung machte mich abermals stutzig. Was war denn geschehen, um Anlaß zu diesem elegischen Ton zu geben?
Sollte dem alten Uschakoff etwas zugestoßen sein? Dann wäre der Empfang ein anderer gewesen, und zu meiner Frende erfuhr ich, daß aus dem Schlosse Alles wohlauf und bereits viele Gäste zum morgigen Fest angelangt seien.
Deutsche Noimrii-BibNothek. XII, IS.
Noch während wir darüber sprachen, wurden wir unterbrochen. Ein eleganter, mit kleinen Lithauern bespannter Schlitten fuhr vor dem Hanse vor, und aus dem Schlitten, den sie selbst gefahren, sprang eine Dame, in der ich nach Sherwood's Beschreibung sofort die ältere Schwester Nadja's erkannte, eine anmuthige Gestalt von elastischer Bewegung, mit dunklen Augen und dunkler Lockensülle, soviel ich bei dem ersten flüchtigen Blick sehen konnte.
Wassili Smirnoff, der würdige Pope, empfing die Tochter seines Gutsherrn mit unterwürfigster Reverenz und führte sie mit ehrfurchtsvoller Gravität sofort in das Zimmer seiner Frau Ustinja, welche noch immer am Lager Nadja's beschäftigt war. Ich übergehe hier das erschütternde Wiedersehen der Schwestern, ihre Ausrufe und Freudenthränen, wie ihr langes Gespräch, das sich ebenso um Nadja's Erlebnisse und Flucht aus Smolensk, wie um Tatiana's bevorstehende Hochzeit drehte.
Ich hatte mich diskret in das Privatzimmer des Popen zurückgezogen, wo der würdige Seelsorger ab und zu wieder erschien, um mir Gesellschaft zu leisten. Die Zeit verstrich und ich hielt es schließlich für das Beste, lieber allein das Werk zu beginnen, den alten Uschakoff auszusnchen und die Versöhnung vorzu- bereiten.
„Aber es hat damit wirklich keine Eile," meinte der Pope. „Sie treffen den gnädigen Herrn zwar jetzt schon zu Hause, werden ihm aber doch erst in der Theestunde am willkommensten sein. Bei den jetzigen Zeiten wird es ihn freuen, einen alten, treuen Freund wiederzusehen. Niemand weiß ja, was der nächste Tag, die nächste Stunde bringen kann. Gott sei es geklagt, wie es scheinen will, gehen wir Verhängnissen entgegen."
Wieder dieser feierliche Ton, und dabei sah mir der alte Herr so forschend und fragend in die Augen, als erwarte er von mir eine beistimmende Aenßerung oder neue Mittheilnng. Sollte dieser fromme Mann in dem weltentlegencn Dorfe ebenfalls um die Verschwörer und ihre Pläne wissen? Unmöglich!
„Batjnschka Smirnoff," sagte ich, „es wird sicherlich nichts geschehen, als was nach Ihrer Ansicht der Himmel zuläßt. Aber auch gegen das Schlimmste lassen sich immer noch Vorsichtsmaßregeln treffen. Und so viel ich Ihnen mit Bestimmtheit sagen kann, diese Maßregeln sind getroffen. Also hoffen wir das Beste."
Wieder sah mich der alte Herr mit seinen klugen Augen forschend und fragend an, und seine Stimme hatte einen Ausdruck von Trauer, als er erwiederte:
„Herr Oberst reden von einem möglichen Unglück, das steht freilich in Gottes Hand, aber bereits Geschehenes macht auch der Allmächtige nicht mehr ungeschehen, und dem, was der Unerforschliche auf unsere Schultern gelegt, müssen wir uns in Demuth beugen."
Wieder fielen mir die Beobachtungen unterwegs ein und ich wartete mit Spannung aus weitere Erklärung.
Der alte Herr ging zur Thür, öffnete sie, sah hinaus und schloß sie wieder. Dann kam er langsam zurück und legte die Hand an seinen Mund.
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