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Deutsche Roman-Bibliothek.
„Sollte Euer Hochwohlgeboren wirklich keine nähere Nachricht über die allgemeine Kalamität haben, die ganz Rußland betroffen? Sie kommen doch aus einer volkreichen Stadt, und wir leben hier in der Einöde."
„Nicht das Mindeste habe ich gehört. Was in aller Welt meinen Sie denn?"
Wieder schwieg der alte Herr unschlüssig, dann nahm er mir mein Ehrenwort ab, ihn nicht Zu ver- rathen. Denn mit Gerüchten so ernster Art sei es eine gefährliche Sache, und schon Mancher, der nur nachgesprochen, was er gehört, sei zur Rechenschaft gezogen worden.
„Sehen Sie, Herr Oberst," fuhr er fort, „wir leben hier Wohl abgelegen genug, um von der Verderbtheit der argen Welt nichts zu sehen und nichts Zu hören, aber bisweilen und besonders in den letzten Tagen kam doch allerlei Botschaft zu uns. Kosaken erschienen, Kuriere, Tschinowniks, nicht bloß um Steuern zu holen, man sagt, auch Verhaftungen wurden vorgenommen. Da war zum Beispiel ein gewisser Labanoff, ein Tschinownik, der weitläufig mit meiner Frau Ustinja verwandt ist; er kommt sonst alle Jahre einmal, aber gestern zu ganz ungewohnter Zeit. Nun, sein Besuch war kurz, und er hatte kaum Zeit, eine Saknschka (Imbiß) zu nehmen. Da, als Frau Ustinja hinaus war, hat er mir das Entsetzliche zngeflüstert. Denken Sie sich, in Kiew will er gehört haben, daß Kaiser Alexander schon in voriger Woche das Zeitliche gesegnet habe. Gott schenke seiner Seele Frieden, wenn das traurige Wahrheit ist. Was sagen Sie nun?"
„Der Kaiser ist todt — bester Herr, das ist ganz undenkbar!" rief ich. „Sie sind getäuscht worden!"
„Möglich, Herr Oberst, und ich wünsche es selbst. Wollen Sie nicht vergessen, ich wiederhole ja nur fremde Worte. Gebe der Allmächtige, daß es anders ist! Wie Herr Labanoff sagte, und Herr Labanoff ist sonst ein braver Mann, ein glaubwürdiger Mann, schon am ersten Dezember soll der Kaiser gestorben sein in Taganrog. Man macht ein Geheimniß daraus, vielleicht der Thronfolge halber, vielleicht weil man die Ursachen vertuschen will. Ich mag die Vermuthungen gar nicht wiederholen, aber todt ist der Kaiser, darauf können Sie sich verlassen. Die Nachricht war sicher und mehr als Gerücht. Vielleicht werden Sie ans dem Schlosse mehr erfahren. Wir armen Sterblichen können nur das Haupt beugen in Trauer. Der Herr sei Rußland gnädig."
Diese Bestimmtheit, mit welcher der Geistliche sprach, entwaffnete meinen Widerspruch. Ich war sprachlos von der Kunde, erschüttert bis in's tiefste Mark. Allerdings hatte man von einem Leiden der Kaiserin gehört, um derenwillen die Reise unternommen, und nun sollte der Kaiser selbst geendet haben, plötzlich ohne alle vorhergehende Erkrankung. Wieder tauchte der Gedanke an die geheimen Gesellschaften in mir auf, und selbst die neuesten Reden Pcstel's und Murawieff's in Smolensk, wovon ich Zeuge gewesen, erschienen in unheimlichem Licht. War es denkbar, daß wirklich ein Verbrechen geschehen? Sollten Sherwood's Bemühungen alle vergebens gewesen sein, das Ungeheure zu verhindern? Und
was dann — was dann mit ihm und seiner unglücklichen Frau?
Wahrlich, wie eine providentielle Fügung schien es jetzt, daß ich sie wieder in ihre Heimat gebracht, wo sie noch am ehesten in Sicherheit war. Aber andererseits, wenn der Kaiser natürlichen Todes gestorben, so erschien die Verschwörung vorläufig gegenstandslos. Alle Wolken verschwanden, aber auch das war nur ein trügerischer Trost. Die Verschwörung galt ja allen Romanows, und der Thronwechsel wie die unvermeidliche Ungewißheit der Zwischenzeit boten hundert lockende Gelegenheiten zum Losschlagen. Und wer konnte wissen, ob der Nachfolger nicht viel rascher und energischer mit den Verschwörern anfränmcn würde, als der gütige Alexander. Alle diese Gedanken bestürmten mich mit widerspruchsvollen Hoffnungen und Sorgen.
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Eine halbe Stunde später fuhr ich an Tatiana's Seite in ihrem Schlitten zum Schloß Stanitza Tarnssa.
Wassili Smirnoff hatte mich Comteß Tatiana später vorgestellt, und so war es gekommen, daß sie mich cinlud, sie sofort zu begleiten.
Mit Interesse lernte ich die Schwester Frau Nadjeschda's kennen, sie mochte ein oder zwei Jahre älter sein; von ebenso bezaubernder Schönheit in anderer Art, hatte ihr Wesen doch etwas Degagir- teres, Herberes, ich möchte sagen etwas Männlicheres. Obwohl sie selbst nun eine glückliche Braut und als solche den Wunsch ausgesprochen, die ärmste Schwester bei sich zu sehen, schien sie doch von der unerwarteten Ankunft derselben peinlich überrascht zu sein, und in diesem Sinne sprach sic sich unterwegs aus, während sie selbst die Zügel führte.
„Unverholen, Herr Oberst, Sie haben da etwas Unüberlegtes gethan. Freilich bin ich schuld daran, denn in meinem Briefe hatte ich denselben Gedanken, aber es war ja doch nur ein frommer Wunsch. Warum haben Sie Nadja nicht in Smolensk gelassen? Wir hätten sie ja mitgenommen. Hier kann sie Alles verderben, das weiß ich auch selbst."
Ich sah daraus, daß Nadja von ihrer letzten prekären und gefahrvollen Situation und von den wahren Gründen ihrer Flucht aus Jakouschin's Hanse geschwiegen hatte, fühlte auch keinen Beruf, auf die unerquicklichen Dinge jetzt zurückznkommen.
„Bestes Fräulein," sagte ich, „Sie wissen nicht, daß ich ein alter Freund Ihres Vaters bin. Meine Aufgabe der Vermittlung und Versöhnung wird nicht so schwer sein, wenn ich Ihrer Hülfe versichert bin."
„Was denken Sie!" rief sie. „Hundertmal haben wir es versucht, Papa eine bessere Meinung beizubringen, aber es war Alles vergebens. Sie kennen seinen Eigensinn nicht. Und dann diese larmoyanten Szenen, die unvermeidlich wären. Wir würden nur ausgehalten werden und wir haben Eile, hier fortzukommen. Versprechen Sie mir vor allen Dingen, Nadja's Anwesenheit nicht zu verrathen. Wir haben ausgemacht, daß sie bei Batjnschka Smirnoff bleibt, bis die Hochzeit vorüber ist. Vielleicht gelingt es, sie von dort unbemerkt mitzunehmen. Das wird auch das Beste sein."