Sherwood von Julius Grosse.
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„Das Beste? Ich verstehe wirklich nicht. In solchem Fall wird ja die Vereinigung mit ihrem Gatten in das Unabsehbare hinansgerückt. Und darum wird sie auch nicht wollen."
„O, schweigen Sie mir von diesem Menschen!" rief sie erregt. „Ein Abenteurer, der eine Dame aus gutem Hause entführt, um sie vw-ä-vw 6o rien zu verlassen. Es ist wahr: früher stand ich auf seiner Seite, denn ich hielt ihn für ein Genie, für einen Titanen, dem die Zukunft, dem die Welt gehört. Jetzt nach Jahren ist's klar, wie gründlich wir uns in ihm getäuscht haben. Es ist ein ganz unbedeutender Mensch. Was hat er aus Nadja gemacht. O, er ist ein Landstreicher, ein Elender — besser, wenn Nadja ihn auf immer vergißt!"
Und weiter sagte sie:
„Jetzt Zwar glaubt sie noch an ihn, denn sie ist eine reine, hohe Seele, die alle Welt für ebenso tadellos und edel hält, wie sie selbst ist. Aber sie muß ihn vergessen. Lassen Sie uns nur erst in Dresden, in Paris und Italien sein; und deßhalb ist es auch ein wahres Glück, daß das Kind gestorben. Nun ist sie wieder frei!"
Mir wurde bei all' diesen Worten das Herz schwer. Ich sah mein Unternehmen wider meinen Willen einen ganz andern Lauf nehmen. Besser, ich hätte Frau Nadjeschda sofort zu ihrem Gatten gebracht, statt sie der Gefahr auszusetzen, ihm ganz entfremdet zu werden. Zudem empörte mich über alle Maßen die lieblose, berechnende Art der Schwester, die doch schließlich von Anfang an Schuld gewesen, daß Alles so gekommen.
„Sie entschuldigen, Tatiana Jwanowna," sagte ich. „Wenn wirklich eine Versöhnung unmöglich sein sollte, so nehme ich Ihre Schwester mit nach Novo- mirgorod. Ich habe mein Wort dafür eingesetzt und werde es halten."
„Zunächst wird es doch darauf ankommen, ob Nadjeschda will. Eine solche Thörin ist sie nun und nimmermehr!"
„Sie haben ganz Recht, Tatiana Jwanowna," sagte ich. „Aus den Willen Ihrer Schwester kommt es an, und glücklicherweise kennt sie Sherwood besser. Wenn ich die Wahrheit sagen soll, so indignirt mich Ihre Verkennung seines Charakters. Sie sind undankbar gegen ihn!"
„Ich gegen Sherwood — wieso?"
„Wissen Sie auch, daß Sie Ihre Versöhnung mit Wadkowski und somit Ihr Glück niemand Anderem zu danken haben, als Sherwood?"
„Das wäre! Wieso das?"
„Und nicht das allein, auch die Sinnesänderung Wadkowski's und Ihre Reise in's Ausland danken Sie ihm allein. Sherwood wird Ihnen das später selbst einmal erklären. Er bleibt immer Ihr Schwager, und Sie werden einst noch Ursache haben, vielleicht mit Staunen und Bewunderung seiner Kühnheit an ihm aufzublicken. Doch ein andermal mehr davon!"
Damit brach ich das Gespräch ab, denn ich fürchtete, fast zu viel gesagt Zu haben. Bei einigem Scharfsinn konnte Tatiana bereits errathen, daß Sherwood und Jamestown Eine Person seien. Jn- deß, selbst wenn sie diese Entdeckung gemacht hätte,
wäre für die bevorstehende Hochzeit und Abreise nichts geändert worden.
Tatiana schien von meinen Andeutungen betroffen zu sein und war in Nachdenken versunken. Vielleicht würde sie dennoch ihre Fragen wiederholt haben, wenn nicht die Unruhe der Pferde und die Krümmung des Weges alle ihre Aufmerksamkeit und Kraft in Anspruch genommen hätten. '
Wir fuhren über eine Brücke aus Baumstämmen, gleich daraus bog die Straße links ab und vor uns lag das Herrenhaus von Stanitza Tarussa in seiner ganzen Ausdehnung. Wir waren am Ziel. In gestrecktem Galopp fuhr der Schlitten vor der Freitreppe des Schlosses vor. Mächtige Wolfshunde umsprangen uns, und ein alter Kosak, jedenfalls der oft erwähnte Kuzmin, empfing uns mit schmetterndem Trompetenstoß.
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Das Wiedersehen mit dem alten Uschakoff nach der letzten Entrevue in Moskau war herzlicher und unverfänglicher, als ich erwarten konnte. Er freute sich, seinen jüngsten Kriegskameraden endlich in seinem Hause zu sehen.
„Alter Freund!" ries er, als er mich umarmte, „das ist schön, das ist brav, daß Du unserer gedenkst. Die Wege laufen kreuz und quer in dieser schlechten Banditenwelt, aber der Mensch muß die rechten suchen. Hab' oft an Dich gedacht seit Moskau. Findest ein Haus mit Myrtengrün, aber es sind Stechpalmen darunter. Wunderliche Zeit, wo mair auf den Gottesacker tanzen geht. Aber wo zum Teufel kommst Du her, von Süden oder von Norden? Sei willkommen, wenn Du Nachrichten bringst. Wir leben hier von der Lust, und jeden Tag bläst anderer Wind und der Südwind ist der faulste."
Dabei schüttelte er mir die Hand mit so starkem Drucke und so fragendem Blicke, daß ich wohl merkte, auch hier müsse die düstere Botschaft schon bekannt sein.
Ueberhaupt war der alte Herr seltsam zerstreut, und alle seine Sprüchwörter hatten einen melancholischen Beigeschmack. Auch wenn er etwas Heiteres sageil wollte, kam es traurig heraus.
„Mußt meinen Schwiegersohn kennen lernen," sagte er, indem er mich die breiten Treppen in die erleuchteten Gemächer des obern Stocks hinausführte, wo bereits viele andere Gäste versammelt waren, „ist ein Prachtkerl, aber fühl' ihm selber aus den Zahn. Mir ist das ABC abhanden gekommen. Zu meiner Zeit war's anders, als wir freiten. Na, wir reden noch davon."
In der nächsten Minute befand ich mich in zahlreicher Gesellschaft, die aus der Nachbarschaft herbeigekommen, um den Vorabend der Hochzeit zu feiern. Alte und junge Herren von den nächsten Gütern, würdige Matronen mit ihren Töchtern, auch Beamte von Rang aus irgend einer Kreisstadt. Mir waren die Leute sämmtlich unbekannt, aber dieß gab mir die Freiheit, um so unbefangener zu beobachten.
Nun ist es bei uns in Rußland ohnehin gewagt, eine gemischte Gesellschaft znsammenzubringen, denn aus Rücksichten und Mißtrauen webt sich dann ein eisernes Netz des Zwanges und der Zurückhaltung.
