Sherwood von Julius Grosse.
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Verbindungen hier in Tarnssa werde man später inquiriren. „Geschont wird Keiner mehr!" sagte der Feldjäger.
Die Wirkung dieser unerwarteten Enthüllung war unbeschreiblich. Mit offenem Munde und dem Staunen des Entsetzens hörte die loyale Gesellschaft die furchtbare Anklage, daß sie einen Hochverräther unter sich geduldet. Eher hätte man den Einsturz des Himmels erwartet. Beherrschte die Einen die Bestürzung und der stumme Schrecken, so fühlten die Anderen sich entrüstet über die Verworfenheit des Angeklagten und gaben ihrer moralischen Empörung offenen Ausdruck.
Der alte Uschakoff selbst war wie gelähmt; seine hellblauen Augen starrten bald seinen Schwiegersohn, bald seine Tochter an, als könne er nichts von alledem begreifen, was da vorging.
„Vorwärts, Herr Lieutenant," herrschte jetzt der Feldjäger. „Wir haben keine Zeit zu verlieren. Besteigen Sie auf der Stelle meinen Schlitten, wenn Sie nicht wünschen, daß wir Gewalt brauchen sollen. Zuerst Ihren Degen!"
Jetzt erst kam der junge Mann zu sich, und in einer seltsamen Jdeenverwirrung, die gleichsam aus einem Ueberschuß von Scharfsinn hervorging, wandte er sich plötzlich an mich, den er auf der Treppe erblickte. Er war ans dem Schlitten gestiegen und schnallte seinen Säbel ab.
„Meinen Dank, Herr Oberst. Ihnen und keinem Andern habe ich wohl diesen nichtswürdigen Ueber- sall zu danken. Meinen Dank auch, Herr von Uschakoff und Dir, glatte Schlange, wenn Du darum gewußt hast. Das also war der wahre Sinn von Versöhnung und Treue. Speck für die Ratten, Leim für die Gimpel! Die ganze Hochzeit, der ganze Roman also nur eine Falle — ein echt russisches Meisterstück, das Dem Ehre macht, der es ersonnen. Aber triumphirt nicht zu früh. Geschieht mir etwas, so wird sich der Bund an euch halten. Fort von mir, Komödiantin! Vorwärts, Herr Feldjäger!" Dabei stieß er Tatiaua von sich und bestieg den Schlitten des Kuriers.
Tatiana aber folgte ihm. „Bei allen Heiligen beschwör' ich Dich, Alexander. Ich weiß nichts von Allem, ich habe nichts gewußt. Und jetzt, als Dein Weib, will ich Dein Loos theilen, falle es, wie es wolle. Das ist meine Pflicht, und Du wirst mich nicht von Dir stoßen!"
Mit diesen Worten schwang sie sich in den Schlitten neben den Gefangenen, der sie mit beiden Armen umfing.
„Steht es so, dann sei willkommen. Dann bleiben wir vereint im Leben und im Tode!"
Tatiana's kühne That aber wirkte wie ein Alarmsignal auf den alten Uschakoff.
Zitternd vor Zorn und Wuth kam er herbeigestürzt. Seine heisere Stimme erstickte fast unter dem Uebermaß seines Grimms.
„So also steht es! Ein Hochverräther an Kaiser und Reich wagt sich in mein reines Haus einzn- schleichen, um mich und meine Familie mit Schmach und Schande zu bedecken. Da muß man ja Gott auf den Knieen danken, daß dieser Heuchler, dieser
Blutmensch noch im letzten Moment entlarvt wird. Und Du, meine Tochter, willst mit ihm, meine einzige Tochter? — Aus der Stelle steigst Du aus!" Und als er keine Antwort erhielt, raffte er sich noch einmal Zusammen. „Du weigerst Dich, Entartete, so fahrt denn zur Hölle und habt Beide — —
Aber er vollendete nicht; noch ehe das verhäng- uißvolle Wort des Vaterfluchs gefallen war, ließ sich eine andere Stimme vernehmen.
„Sprich das Wort nicht aus, Papa!" rief Nad- jeschda, die mir gefolgt war, um ebenfalls Zeugin des Vorgangs zu werden. Jetzt drängte sie sich durch die Umstehenden und stürzte an Uschakoff's Brust.
„Sprich das Wort nicht aus. Du hast einst Deine jüngste Tochter verflucht, und sie ist unglücklich geworden, obwohl sie keine Schuld trug, als daß sie ihrem Gatten folgte und Vater und Heimat verließ, wie es in der heiligen Schrift steht. Sieh' mich an Deiner Brust, an Deinem Herzen. Ich flehe nicht um Vergebung oder um Gnade, denn ich habe keine Sünde auf mir, als meine Treue und meine Liebe. Aber Deine lieben Augen wollt' ich noch einmal sehen, Deine Lippen möcht' ich küssen, um das schreckliche Wort zurückzuhalten. Du sollst Alles erfahren, Alles, wie elend ich geworden bin ohne Deinen Segen. Aber Deines Hauses Ehre und die meine sind unverletzt geblieben, das kann ich Dir mit reiner Stirn sagen. Fahr' wohl, Tatiana. Möge Gott euch beistehen und Alles Zum Guten lenken. Dein Vaterhaus soll Dir immer offen stehen wie unsere Arme, wenn Du keine andere Heimat mehr hast. Lebt wohl! Aber Du, Väterchen, komm' nun hinein, ich verlasse Dich nun und nimmermehr. Und zum zweiten Mal mir fluchen, mich zum zweiten Mal verstoßen — das kannst Du nicht!"
Unmöglich wäre es, zu schildern, mit welcher hinreißenden Wärme, mit welcher Innigkeit und Würde die schöne Frau sprach, so daß keiner der Anwesenden sich der unwiderstehlichen Wirkung ihrer Worte entziehen konnte.
Wahrhaft merkwürdig aber war diese Wirkung auf den alten Uschakoff.
Die ganze Fülle seiner grenzenlosen Erbitterung hatte sich mit jenem ersten Ansbruch Physisch und psychisch erschöpft und verbraucht, so daß er dem unerwarteten Anruf seines Lieblingskindes waffenlos und wehrlos gegenüberstand wie ein gebrochener Mann, wie ein greises Kind. Auch mochte die Reaktion des Festtaumels und der überreichlichen Genüsse Mitwirken, ihn jetzt zwar zu ernüchtern, aber zugleich aus allen festen Fugen seines Wesens zu bringen.
Während der Schlitten mit den Verhafteten sich in Bewegung setzte, umgeben von den Kosaken, zitterte der alte Mann am ganzen Körper und versuchte seinen Arm und seine Stimme zu erheben, aber die Stimme versagte ihm und der Arm sank kraftlos herab.
Gebeugt und willenlos ließ er sich von der neugeschenkten Tochter in das Haus zurückführen, während die Gäste ehrerbietig und schweigend Platz machten.
Und diese Veränderung in Uschakoff's Wesen erlitt auch nachher keine Wandlung. Sein Staunen