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Deutsche Roman-Bibliothek.
über den neuen Zwischenfall lähmte völlig seinen Jähzorn und ließ den letzteren auch nicht wieder zur Ansammlung kommen. Er betrachtete die Wiedergekehrte fortwährend mit Kopfschütteln und unverständlichen, halblauten Monologen, als umgankle ihn ein unglaublicher, halb lieblicher, halb unheimlicher Traum.
Der Schwarm der Gäste war von dem Vorgefallenen, wie von dem plötzlichen Auftauchen der verschollenen Tochter gleichfalls so irritirt und aus der Fassung gebracht, daß eine Gruppe nach der andern das Bedürfnis empfand, sich schweigend zu empfehlen und schleunigst davonzusahren. Noch bevor die Nacht hereinsank, war es auf dem weitläufigen Gut wieder so still und einsam, wie sonst im Winter. Auch die lärmenden Bacchanalien der Gutsleute und Muschiks, welche im Erdgeschoß des Schlosses den ganzen Tag über und schon gestern banketirten und sangen, waren verstummt. Die Leute saßen verschüchtert und verstört in Gruppen beisammen und besprachen mit leisen Worten in ihrer Weise die Ereignisse dieses denkwürdigen Tages.
Meine Zweifel hinsichtlich Nadjeschda's hatten nun vorläufig die glücklichste Lösung gesunden, aber auch meine Aufgabe war hier nun erledigt. Schon zeitig begleitete ich den würdigen Popen Smirnoff und seine treffliche Frau Ustinja in ihre Wohnung zurück, und noch manche Stunde des Gesprächs verging in der stillen Pfarrwohnung, bevor ich mein Nachtlager aussnchte. Am Morgen des nächsten Tags setzte ich meine Reise nach Novomirgorod fort, ohne weder den alten Uschakoff, noch seine Tochter Nad- jeschda noch einmal gesprochen zu haben. Eine Art von Vorgefühl sagte mir, daß ich Beide nicht zum letzten Mal gesehen, daß ich in kürzerer oder längerer Frist wieder hieher Zurückkehren würde.
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Meine Rückreise nach Novomirgorod dauerte mehr als eine Woche. Verzögert wurde meine Fahrt weniger durch einen Umweg, den ich machte, als durch neue unerhörte Schneestürme, die über Wälder und Steppen fegten und alle Wege, Straßen und Dörfer unter ungeheuren Schneelasten begruben. Jener übrigens nicht bedeutende Umweg ging über Kamenka.
So wenig der verabschiedete Oberst Davidoff zu meinen näheren Freunden gehört, so viele Rücksichten schuldete ich seinem Oheim, dem General und Gutsbesitzer Lwowitsch, der gleichfalls zu meinen alten Kriegskameraden zählte.
Bei dieser Gelegenheit hoffte ich an dem eigentlichen Herde der Verschwörung über manches Einzelne Aufschluß zu erhalten.
Da die ganze Konspiration bereits zum öffentlichen Geheimniß geworden war, brauchte ich mir keine weitere Reserve aufzuerlegen. Schließlich war es auch meine Pflicht, den alten Freund zur schleunigsten Flucht zu mahnen. Die Verhaftung Wadkowski's bewies, daß die Proskription aller Verdächtigen eine Thatsache und das Werk der Verfolgung begonnen hatte.
Diesen wohlgemeinten Umweg hätte ich mir aller
dings ersparen können. Das Herrenhaus von Kamenka war verschlossen und wie ausgestorben, als ich vorfuhr. Erst auf einem der inneren Höfe zeigte sich eine Spur von Leben. Ein verschlafener Muschik war beschäftigt, eine Troika anzuspannen. Bei meinem Erscheinen wollte er anfangs entfliehen, aber durch gütliches Zureden und ein reichliches Nawodku (Trinkgeld) gelang es, ihn Zu halten und zum Reden zu bringen. So erfuhr ich, daß nur die uralte Mutter des Generals noch anwesend, aber im Begriff sei, nach Moskau abzureisen. Nach Verlauf einer Stunde endlich würdigte mich die Matrone ihres Anblicks. Reisefertig angezogen kam sie auf einer Krücke die Treppe herab in den Vorranm geschlichen — wie ein Schatten ans verschwundenen Zeiten.
Als sie mich erblickte, erschrak sie. „Wer sind Sie — was wollen Sie — werden Sie auch eine alte Frau nicht verschonen?"
Mit Mühe erreichte ich cs, die schwerhörige Greisin zu beruhigen und ihr deutlich Zu machen, daß ich ein alter Freund ihres Sohnes und gekommen sei, ihn nach langer Zeit wiederzusehen.
„Freundschaft —gibt es denn auch noch Freunde?" sagte sie. „Wie heißt es in Rußland: ,Wenn die Freundschaft den Verdacht geboren, so stirbt sie an der Entbindung'. Viel Dank, Herr, für Ihre Freundschaft. Heut gibt's nur Neugierige. Sind Sie einer von denen, dann hätten Sie vorgestern kommen müssen, als sie ihn weggesührt haben. Mein armer Sohn, wann werde ich ihn Wiedersehen?"
Auch er bereits verhaftet! Die Nachricht bestürzte mich. „Aber warum ist er nicht bei Zeiten geflohen? Ich weiß, er war gewarnt."
„Freilich war er's, schon seit Monaten," sagte die alte Frau. „Aber ein Lwowitsch kennt keine Flucht; er mochte nicht an die Gefahr glauben, bis gestern die Briefe kamen, und da war's schon Zn spät. Briefe aus Wiatka und Smolensk. Alle sind sie gefangen, Alle ohne Gnade und Erbarmen, Licharew, Sochatzki, Jasinowitsch, Juschnefski und Davidoff, wer nur zu uns gehalten hat; da wußte er, wie es stand, und er ließ sein Pferd satteln, um fortzureiten. Aber es war zu spät — noch am selben Abend war das Haus umzingelt."
Es war so, wie ich angedeutet; eine allgemeine große Razzia durch ganz Rußland hatte begonnen, und wie hier so überall. Blieb auch Manches räthsel- haft, so lag doch am Tage, daß sich die Negierung mit einem Schlage ermannt hatte. So lange der Kaiser lebte, zog man es vor, zu schonen, kaum war sein Auge geschlossen, so erhob der Terrorismus sein Haupt, eigentlich voreilig und unbesonnen, denn eine wirkliche Schilderhebung hatte nirgends bisher stattgefunden.
Damit tröstete ich die alte Frau, aber sie schüttelte den Kopf.
„Es ist gekommen, wie ich längst prophezeit habe, aber mein Sohn wollte nicht hören. Diese Hitzköpfe haben ihn verblendet, nun müssen die Verführten büßen. Wen der Minister Araktschejef einmal gepackt hat, den läßt er nicht wieder los. Ja, wenn wir in anderen Staaten lebten, aber bei uns