Heft 
(1885) 39
Seite
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Sherwood von Julius Grosse.

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in Rußland ist strenges Regiment nothwendig. Nun wendet es sich gegen meine eigene Familie. Es wird Zeit für mich, in die Grube Zu steigen."

Und weiter sagte sie:Meinen Sohn vertheidige ich nicht; er mag Schweres auf dem Gewissen haben, ich weiß es nicht. Aber sehen Sie sich vor, Herr Oberst, auch die Schuldlosen sind in Gefahr. Der Verdacht hat tausend Augen. Da war ein Mensch hier, ein frommer, lieber Mensch, der die Mühle reparirte; ich weiß nicht mehr, wer ihn geschickt und wie er sich nannte, mein Gedächtniß ist schwach ge­worden, aber er hatte einen ausländischen Namen, ich meine, einen englischen. Mit dem Menschen ist das Unglück eingezogen; jetzt weiß ich erst, warum er Tag und Nacht keine Ruhe hatte, überall und nirgends war, alle Welt aussragte und aller Welt schön that, bis er wußte, was er wollte. Ein Spion ist's gewesen, ein Denunziant, der uns Alle in's Unglück gestürzt und so gibt's Tausende! Sehen Sie sich vor, Herr Oberst. Leben Sie Wohl, leben Sie wohl aus immer. Wir sehen uns nicht wieder auf Erden!"

Dann wankte sie auf ihrer Krücke fort und ließ mich stehen. Die Erwähnung desselben Menschen, den ich hieher empfohlen hatte, trieb mir das Blut in den Kops, und die Worte der Matrone klangen wie eine Anklage gegen mich selbst. Noch in selber Stunde setzte ich meine Reise nach Novomirgorod ohne weitere Unterbrechung fort.

So klar nun die Sachlage äußerlich schien, so verschleiert blieb sie in ihrem inneren Zusammen­hang. Hatte Sherwood also doch nur den ver­worfenen Denunzianten gespielt, der sein ehrloses Werk mit täuschenden Vorspiegelungen bemäntelte? Warum jetzt auf einmal die Schleusen der Ver­folgung öffnen und Alle preisgebcn ohne Ausnahme? Warum seinen eigenen Schwager in die Falle des Glücks locken, um ihn dann um so sicherer zu ver­derben? Und für diesen Schurken hatte ich mich interessirt, hatte ihn fördern wollen, mit unbegreif­licher Blindheit, getäuscht von seiner ritterlichen Pose, seiner ehrlichen Zuversicht. Wo mochte er jetzt sein, dieser Nichtswürdige? Wahrscheinlich in Petersburg, um die Früchte seines Verraths einzuheimsen und die Schlingen seines Gewebes über Tausende von Unglücklichen zuzuziehen.

*

Um so größer war meine Ueberraschung, als ich gleich bei meiner Ankunft in Novomirgorod erfuhr, daß Sherwood anwesend sei und keinen Tag lang die Garnison inzwischen verlassen habe. Sofort ließ ich ihn rufen und glaubte volles Recht zu haben, ihn ohne Weiteres als den Elenden zu behandeln, für den ich ihn ansah.

Aber meine Vorwürfe und Beschuldigungen machten nicht den geringsten Eindruck ans ihn.

Ich verstehe Sie nicht, Herr Oberst," sagte er mit aller Ruhe.Wenn Jemand ein Recht hat, außer sich zu sein vor Wuth, so bin ich es. Seheil Sie denn nicht, daß Alles, was jetzt vorgeht, nur Satanssprünge dieses Araktschejef sind. So lange der Kaiser lebte, waren ihm die Hände gebunden,

und er durste meine Zirkel nicht stören. Kaum ist der Kaiser todt, so fährt er los wie ein Tiger. Es ist zum Verzweifeln, aber wer konnte diese Even­tualität voraussetzen?"

Suchen Sie nicht nach neuen Ausflüchten. Wie konnte der Minister um die Einzelnen wissen ohne Ihre Liste, ohne Ihre speziellen Angaben?"

Das ist's ja eben! Und Sie, Herr Oberst, haben schon früher das Rechte getroffen; meine Warnungen waren dringend und begründet. Auch die Meisten, die ich warnte, nahmen Urlaub, um zu reisen. Aber gerade diese Urlaubsgesuche haben sie als Flüchtlinge verrathen und den Minister auf die richtige Spur gebracht. Erinnern Sie sich doch, Herr Oberst, daß Sie mir selbst diese Gefahr zeigten; aber wer konnte denken, daß der Kaiser sterben würde. Seitdem ist mir das Heft aus der Hand gewunden, und nun ist's so gekommen. Er hat Alle verhaften lassen, die reisen wollten Alle unter dem Vorwand, daß sie sich dem neuen Huldignngseid entziehen wollten. Das Weitere hofft er dann durch moralische Folter herauszubringen, der Herr General­inquisitor. Aber glauben Sie nur, der Teufel ist immer dumm. Wir sind noch nicht am Ende. Diese täppische Bärenplumpheit sich an Leuten ver­greifen, die gar nichts gethan, die dem Verbrechen entfliehen wollten. Was will er ihnen anhaben? Wenn sie alle Papiere vernichtet, kann er Keinem etwas beweisen, und das Ende wird eine namenlose, eine unsterbliche Blamage für ihn. Es ist ja nichts geschehen, folglich muß er sie Alle wieder freilaffen!"

Nach allem Obigen konnte ich mir nicht ver­hehlen, daß diese Auffassung an sich nicht unbegründet und der meinigen ziemlich gleich kam.

Aber eine objeklive Beruhigung war damit doch nicht gegeben.

Spielen Sie nur mit dem Minister und Sie werden seine Macht empfinden. Dergleichen habe ich Ihnen gleich vorausgesagt. Und wer bürgt uns denn, daß er nicht alle Verhafteten ohne Weiteres nach Sibirien schickt? Es wäre nicht das erste Mal!"

Das soll er sich unterstehen!" ries Sherwood. Dann gehe ich an den Kaiser Konstantin, wie vor­her an den Kaiser Alexander."

Und wird man Sie vorlassen? Der neue Kaiser ist Ihnen keinen Dank schuldig; und findet man keine Schuld bei den Verhafteten, so wird man dem Denunzianten noch rascheren Prozeß machen."

Alles im Voraus kann man nicht berechnen, Herr Oberst," sagte Sherwood.Kommt manches Schlimmere dazwischen durch Unvorhergesehenes, so kann auch manches Günstige kommen durch dasselbe Unberechenbare. Bei uns liegt nicht der Schlüssel der Weltregierung. Es genügt, wenn man sich sagen kann, du hast deine Pflicht gethan. Das Andere gehört dem Schicksal, oder wie Sie es sonst nennen wollen."

Gegen solche Maximen war freilich wenig ein- znwenden. Ich hielt es für meine Schuldigkeit, Sherwood nunmehr die Vorgänge in Smolensk mit- zutheilen, auch daß ich seine Frau in ihr Vaterhaus zurückgebracht. Aber ich irrte mich, wenn ich geglaubt hatte, mir damit seinen Dank zu verdienen.