Sherwood von Julius Grosse.
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und leeren Deklamationen, während von außen Stunde um Stunde neue alarmirende Gerüchte verlauteten, besonders von Smolensk und Tschernigow, dem Hauptquartier der Zweiten Armee, der auch Pestel und Murawieff angehörten.
Man beeilte sich, bei uns den neuen Huldigungseid auf den nächsten Sonntag festzusetzen, um die drohende Gährung im Keim zu ersticken.
Am Tage vorher hielt ein Kurier vor der Wohnung Sherwood's, um ihn sofort nach Petersburg abzuholen, offenbar um ihn als Werkzeug weiterer Verfolgungen und Enthüllungen zu gebrauchen.
Zufällig war ich bei seiner Abreise anwesend und sprach meine Vermnthungen aus. Er aber lachte. „Was denken Sie? Jetzt heißt es hohes Spiel, Herr Oberst, hohes Spiel!" Dann flüsterte er mir zu, während der Feldjäger in der Thür stand: „Sie wissen ja, bis jetzt hatte ich nur den südlichen Bund gebannt durch meine Warnungen. Jetzt muß ich's auch mit dem nördlichen versuchen. Ich weiß, man wollte losschlagen bei der ersten Huldigung — der Tag ist vorübergegangen. Zweimal habe ich die That bereits vereitelt. Das erste Mal, daß die Revue unterblieb bei Belaja Tscherkow, das zweite Mal jetzt. Die bösen Tage sind vorübergegangen; das ist meine That und mein Verdienst!"
„Möge es Ihnen auch das dritte Mal gelingen," sagte ich. „Ich wünsche Ihnen das Beste!"
„Ich danke Ihnen," antwortete er. „Leider kann es auch anders kommen. In Tschernigow soll es bereits drunter und drüber gehen — die Tollköpfe, die Wahnsinnigen! — Ich will's nicht wünschen, glaube auch nicht daran; aber wenn sie dennoch losschlagen, dann gibt's keine Rücksicht. Wollen sie nicht im Guten, so schone ich Keinen mehr, und wehe Allen! Wenn ich wirklich mein Spiel verloren, dann soll man sehen, daß Sherwood auch ein Satan sein kann und daß Araktschejef nur ein Stümper gegen mich. Leben Sie wohl, Oberst, jetzt heißt es va banguo und vogus ta galsre!"
Jünftes Much.
Das Ende des verhängnißvollen Jahres 1825 und der Beginn des neuen Jahres rückte somit unter den düstersten Aussichten heran. War auch der Huldignngseid, den unsere Garnison dem Kaiser Nikolaus schwur, durch die Energie unseres Kommandanten durchgesetzt worden, so hatte doch die fieberhafte Spannung in den Gemüthern der Truppen den höchsten Grad erreicht.
Diese Unruhe wurde durch verschiedene Nachrichten erhöht, denn die Mehrzahl unserer Offiziere stand mit den Militärkolonieen der ersten Armee wie mit Petersburg in ununterbrochener Korrespondenz.
Wir erfuhren, daß man in Kiew, Charkow, Tschernigow und Tultschin die Leistung des Huldigungseides immer noch aufgeschoben, weil man den dortigen Truppen nicht traute. Man wollte ferner wissen, daß ein furchtbarer Ausbruch, eine allgemeine Schilderhebung zu Gunsten Konstantin's bevorstehe; ja, er mochte schon längst erfolgt sein, bevor wir im
Deutsche Roman-Bibliothek- XII. 3g.
südwestlichen Winkel des Reichs etwas davon erfahren konnten.
Eine Wolke von Gerüchten, eins drohender als das andere, erfüllte die Luft, und es verging Niederem Tag, noch eine Nacht, die nicht neue alarmirende Nachrichten brachten. Daß etwas vorgegangen, bewiesen auch andere Zeichen. Gleichsam zur Bestätigung begannen an verschiedenen Orten Gendarmen, Offiziere und Feldjäger zu erscheinen, welche bald Den, bald Jenen nach Petersburg abholten auf Nimmerwiedersehen. Der Ton des Postglöckchens hallte traurig in Aller Herzen wieder und machte das Blut zu Eis erstarren. In keiner Seele war Ruhe, selbst die Unschuldigen zitterten für Leben und Freiheit. Jeder betrachtete den Andern mit Mißtrauen aus Besorgniß geheimer Denunziation, selbst die festesten Bande alter Freundschaft wurden gelockert und zerrissen. Was mich betrifft, so war ich durch die erzwungene Freimüthigkeit Sherwood's in eine zweideutige Lage gebracht worden, denn der Verdacht, den sein geheimnißvolles Treiben allmälig erweckt hatte, übertrug sich auch auf mich. Indessen erwiesen sich meine Besorgnisse als völlig grundlos. Kaum einige Tage nach seiner Abreise erschienen wieder Gendarmen mit Kurierpferden und holten zwei Brüder Komarow aus unserem Ulanenregimente, gleich darauf traf zwei Brüder Krasnoßelski dasselbe Loos.
Gleichzeitig blieben jetzt alle Nachrichten aus St» Petersburg aus, und der optische Telegraph, der nach französischem Muster vor Kurzem eingeführt worden war, arbeitete seit den winterlichen Schneestürmen schon längst nicht mehr. So waren wir vollends von aller Welt abgeschnitten. Da plötzlich sollte der erwartete Schlag geschehen und zwar ver- hältnißmäßig in nächster Nähe, während unsere Augen nach dem fernen Norden gerichtet waren.
In einer windstillen Nacht nämlich, es war in den ersten Tagen des Januar, rasselte plötzlich der Generalmarsch durch die Gassen unseres kleinen Städtchens und die Trompeten der Kavallerie schmetterten zum Sammeln.
Sämmtliche Truppen, die schon seit einem Monat marschbereit waren, eilten mit Sack und Pack auf den Platz vor der Kaserne.
Hier sahen wir bei Fackelschein einen fremden hohen Offizier zu Pferde, der den Befehl zum Ausmarsch gebracht hatte. Es war General Tscherbatoff, der Adjutant des General Diebitsch, der nach dem Tode des Kaisers Alexander und auf eigene Verantwortung die raschesten Maßregeln getroffen hatte.
Wie ein Alarmschuß wirkte jetzt die Kunde, daß in Petersburg bereits vor einer Woche eine furchtbare Revolution zum Ausbruch gekommen sei und zwar bei der verlangten Eidesleistung am 26. Dezember. Der längst befürchtete Militäraufstand war somit zur Wahrheit geworden.
Vorwärts ging es nun durch Nacht und Sturm nach Norden; die Kavallerie voran, Ulanen, Dragoner, dann sechs Kompagnieen Infanterie und einige leichte Batterieen Feldartillerie. Es wurde beim Marsch wenig gesprochen, aber die Soldaten und Reiter
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