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Deutsche Roman-Bibliothek.
zeigten einander den blutrothen Kometen, der, seit einigen Wochen schon sichtbar, jetzt im Nordwesten stand und seine gewaltige Feuerruthe bis zum Zenith hinauf spannte, ein grandioser, unvergeßlicher Anblick.
Weniger lautlos ging es im Ossizierkorps zu und mannigfache Fragen bewegten uns. Wenn wirklich jener Militäraufstand ausgebrochen — wie hatte er geendet? War der Kaiser Sieger geblieben oder war er unterlegen? Und wenn er unterlegen, war er entflohen oder gefangen? Hatte das Volk sich angeschlossen oder unthätig verhalten? Und dann — sollten wir wirklich jetzt noch nach Petersburg marschiren? Eine Strecke von gegen tausend Werst, dazu brauchte es auch bei Eilmärschen mindestens einen halben Monat, und dann kamen wir jedenfalls zu spät.
Alle diese Fragen machten sich laut, aber sie fanden keine Antwort, auch als wir am nächsten Tage bei Tscherkask ein Bivouak bezogen und Tscher- batoff die Offiziere an seinem Lagerfeuer vereinte, erhielten wir keinen Aufschluß. Der General verhielt sich schweigsam und beobachtend. Mir schien es, als ob er uns Allen nicht recht traue.
So marschirten wir in Eilmärschen etwa vier bis fünf Tage, die Kavallerie immer einige Meilen voraus. Allmälig stießen noch andere Truppen zu uns, Infanterie von Kiew und Husaren von Mariu- pol, die unsere Macht auf zwölf Kompagnieen Infanterie, neun Schwadronen Kavallerie und zwölf Feldstücke erhöhten, immerhin eine Anzahl von viertausend Mann und neunhundert Pferden. Am fünften Tage tauchten am Horizont seitwärts die Kuppeln und Thürme von Belaja Tscherkow empor, als der Befehl kam zu halten und die Infanterie zu erwarten.
Zur Seite und hinter uns lag dichter Wald, der sich auf einer mäßigen Anhöhe hinzog, die sich nach Norden in eine weite Ebene senkte. War diese Anhöhe besetzt, so beherrschten wir die ganze Ebene mit allen ihren Straßen von Norden nach Süden und von Osten nach Westen.
General Tscherbatoff versammelte jetzt die Offiziere vor der Front der Truppen, um eine Ansprache an uns zu halten. Die Sonne brach soeben durch den Winternebel und zeigte die weite Umgegend in funkelndem Glanz.
„Meine Herren," sagte der General, „wir sind vorläufig am Ziel. Unser Marsch geht nicht nach Petersburg; dort sind wir gottlob nicht mehr nöthig, aber hier in der Nähe werden wir wahrscheinlich eine blutige Aufgabe zu lösen haben. Wie Sie wissen, bestand schon Zu Lebzeiten des nun in Gott ruhenden Kaisers Alexander eine weitverzweigte Verschwörung und zwar in einem Nordbund und Südbund. Was in Petersburg geschehen ist, jetzt vor vierzehn Tagen, das werden Sie seinerzeit erfahren. Es genügt, daß Sie wissen, der Kaiser hat die gottvergessenen Rebellen siegreich zu Boden geschlagen. Alle Rädelsführer sind in seiner Hand und harren ihrer Strafe.
„Inzwischen aber hat auch der Südbund unter Murawieff Apostol die Fahne des Aufruhrs erhoben, und leider sind Schreckensthaten geschehen. Den
Kommandanten von Tschernigoff hat man in Stücke gehauen, die Läden der Stadt geplündert, die Gefängnisse gestürmt, Kriegskassen und Pulvervorräthe sind geraubt worden. Auch in Kiew hat man Manifeste verbreitet, aber die Sendlinge sind verhaftet worden. Seitdem zieht dieser Hochverräther Murawieff mit seinen Banden im Land herum. Da ihm kein Ausweg mehr offen, wird er nach Polen durchbrechen müssen. An uns ist es, diese Schurken zu entwaffnen, und ich hoffe, daß wir ihnen heute noch begegnen. Vielleicht gelingt es, durch Raschheit und Energie der verruchten Rebellion Herr zu werden, aber auch auf das Schlimmste müssen Sie gefaßt sein. Machen Sie sich bereit, noch heute kann es zum Blutvergießen kommen!"
Ein lautes „Hurrah!" der umstehenden Offiziere wie der Mannschaften war die Antwort auf die Anrede des Generals.
Er aber fuhr fort: „Ich habe es nicht anders von Ihnen erwartet. Der Kaiser Nikolaus zählt auf Ihre Treue und wird sie zu belohnen wissen; in- deß da er Niemand Zumuthet, wider seinen Willen gegen Russen zu kämpfen, so können diejenigen Herren austreten, die es mit ihrer Ehre nicht vereinbar halten."
Eine abermalige Stille trat ein, dann aber scholl ein abermaliges „Hurrah!" für Kaiser Nikolaus. Jeder von uns wußte wohl, was eine solche Freiheit der Wahl dicht vor dem Feinde zu bedeuten habe.
Unmittelbar darauf traten die Kolonnen den Marsch wieder an, und eine Stunde später war die ganze Hügelreihe besetzt, welche die Straßen der weiten Ebene beherrschte. Hier wurde abermals Halt gemacht, nachdem an den vorspringenden Lisieren Vedetten aufgestellt und starke Kavalleriepikets vorausgeschickt waren.
In der Folge zeigten sich diese Dispositionen des Generals als vortrefflich. Auch seine Mittheilungen, soweit sie uns neu waren, bestätigten sich im vollen Umfang. Ich schalte diese Thatsachen hier ein, obschon ihr ganzer Zusammenhang mir erst später bekannt geworden ist.
Außer Sherwood hatte seinerzeit ein anderer Offizier Enthüllungen gemacht, der erwähnte Kapitän Maiboroda in Tultschin. Er sühnte seinen Vcrrath durch Selbstmord; aber General Roth, im Besitz jener Geständnisse, eilte sofort nach Taganrog, wo der Kaiser bereits im Sterben lag. Seine eiskalte Hand vermochte nicht mehr die Dokumente zu entsiegeln.
Wäre der Kaiser am Leben geblieben, so würden auch diese Enthüllungen so wenig wie die von Sherwood zu einer Entscheidung geführt haben. Mit dem Tode des Kaisers aber ward die Sachlage verändert. Die Generale Diebitsch, Tatitschsff und Tscher- nitscheff beschlossen sofort, selbstständig zu handeln.
Pestel in Tultschin und Murawieff Apostol in Tschernigow wurden verhaftet und mit ihnen noch zwölf Regimentskommandanten. Diese Maßregel lähmte den Südbund, der sich seiner Führer beraubt sah. Gleichwohl wagte die Regierung nicht mit größerer Strenge vorzugehen, bis plötzlich der Aufstand in Petersburg den schlummernden Vulkan entfesselte. Ein jüngerer Bruder Murawieff's, Hippolyt