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Deutsche Noman-Sibliothek.
Warum jene Anordnung der Revue noch im letzten Augenblick znrückgenommen wurde, blieb damals und noch lange unaufgeklärt. Erst später ist es bekannt geworden, daß der Kaiser im Lauf der Nacht eine geheimnißvolle Warnung empfangen. Sofort wurde bestimmt, daß die Eidesleistung in jeder einzelnen Kaserne stattzufinden habe. Zugleich zog man das Finnländische Regiment und die Garde- Sapenrkompagnieen in den Winterpalast. Und diese Vorsichtsmaßregel allein rettete in der Folge den Kaiser und seine Familie.
Zwar jene Maßregel der Vereidigung in den Kasernen brachte den Aufstand zu Hellen Flammen; eine ganze Reihe von Regimentern, die Kaisergarde, die Leibgrenadiere des Moskauischen, Jsmailoff'schen Regiments, wie die Marinesoldaten verweigerten den Eid und erhoben die Waffen gegen ihre Befehlshaber, deren einige schon in den Kasernen ihre Treue mit dem Leben bezahlen mußten.
Dann, wie auf Verabredung, zogen die Aufständischen fast gleichzeitig zum Jsaaksplatz, wo sie um die Statue Peter's des Großen ein Carrs bildeten. Ein erster Angriff der Garde zu Pferde wurde mit Flintenschüssen Zurückgewiesen, und bald wuchs die Menge der Empörer bis zu zweitausend Mann, bereit, sich auf Leben und Tod zu ver- theidigen und jeden Vermittlungsvorschlag zurückzuweisen.
Vergeblich versuchte der greise Miloradowitsch, der Abgott der Armee, der in unzähligen Schlachten mit Ruhm gekämpft hatte und nie verwundet worden war, jetzt persönlich den Sturm zu beschwören. Man hörte seine Anrede nicht zu Ende, sondern schoß ihn vom Pferde. Der Metropolit Seraphim erschien im vollen Ornat, umgeben von seinen Geistlichen, das geweihte Kreuz in den Händen, und versprach im Namen des Kaisers unbedingte Verzeihung, mit Ausnahme der Urheber der Empörung. Man ließ ihn bitten und flehen und wies ihn mit Hohn zurück.
Die Macht der Aufständischen wäre stark genug gewesen, den Kaiser, der seine wenigen Getreuen auf dem Admiralitätsboulevard versammelte, zu überwältigen, zumal das Volk selbst eine drohende Haltung annahm und außerdem noch weitere tausend Mann auf der Jsaaksbrücke in Reserve standen.
Noch viermal attakirte die Garde zu Pferde unter Fürst Orloff mit Ungestüm das Carrs der Aufständischen, und viermal wurden sie von den Bajonetten und Flintenkugeln zurückgeworfen. Glücklicherweise und unbegreiflicherweise hatte die Masse der Rebellen im entscheidenden Moment keine Führer mehr. Die es bis dahin gewesen waren, hatten am Tage der Entscheidung den Muth der Entschlossenheit verloren.
Nachdem sie am Vorabend feierlich sich Treue geschworen, nachdem sie tausendmal verkündet hatten, die Welt solle sehen, daß auch Rußland seinen Mirabeau und Washington haben werde, waren sie am Morgen plötzlich unsichtbar geworden und verkrochen sich in Schlupfwinkeln, aus denen sie später hervorgezogen wurden. Fürst Trubetzkoi, den man seines Namens halber an die Spitze gestellt, flüchtete sich zum österreichischen Gesandten, Gras Lebzeltern, der
ihn jedoch auslieferte. Rylsjef, der bewunderte Führer und Schürer des Nordbundes, erschien in Civilkleidung und büßte so jedwede Autorität beim Militär ein. Butatow, der zwanzig Schritte vom Kaiser hielt, zog seine Pistole, um das Attentat Zu vollbringen, aber eine unsichtbare Macht lähmte seinen Arm oder seine Willenskraft.
Schon neigte sich der Wintertag des Nordens dem Abend zu und noch war der Kamps unentschieden.
„Sire!" rief Graf Toll dem Kaiser zu, „befehlen Sie, den Platz mit Kanonen zu säubern, oder entsagen Sie Ihrem Thron." Bleich, ermattet, aber unerschrocken und voll Geistesgegenwart gab der Kaiser endlich seine Zustimmung, daß Gewalt mit Gewalt vertrieben werde.
Der erste Schuß, den die Artillerie gegen die Rebellen abfenerte, war ein blinder.
Ein schallendes „Hurrah, Konstantin!" scholl als Antwort. Jetzt wurden Kartätschen geladen. Oberst Nestorosski richtete das Geschütz auf das Carrs. Der Kanonier bekreuzigte sich, dann kommandirte der Kaiser selbst und Kapitän Bakunin nahm die Lunte aus der Hand des zitternden Soldaten. Einen Augenblick später donnerte der Kartätschenschuß in das dichte Carrs. Sofort stoben die Rebellen auseinander. Die Artillerie folgte ihnen und in dem engen Desils der Galeerenstraße fielen noch Hunderte. Auf der Newa wollte Bestuscheff die flüchtenden Soldaten sammeln, da donnerten von der Jsaaksbrücke Kanonenkugeln, die das Eis des Flusses zertrümmerten, so daß Schaaren von Flüchtlingen versanken.
Binnen einer Stunde seit Beginn des entscheidenden Kampfes war der gefährliche Aufstand niedergeschlagen, und Nikolaus konnte seinem Hof und seiner bebenden Gemahlin die Nachricht bringen, daß er nun unbestrittener Kaiser sei.
Noch in derselben Nacht, während die Wachtfeuer auf den Plätzen loderten, wurde den Truppen der sämmtlichen Regimenter der verlangte Huldigungseid abgenommen.
Am andern Morgen begannen die Verfolgungen, lieber zweihundert Offiziere aller Grade und aller Waffengattungen wurden verhaftet, um vor ein besonderes Gericht gestellt zu werden — junge Leute aus den ältesten, vornehmsten und reichsten Familien, Schwärmer, Idealisten, Doktrinäre, Verführte und Verführer, die nun dem schimpflichsten Loose entgegensahen, dem Tode am Galgen oder der ewigen Verbannung.
In Summa: der Verlauf der ganzen Revolution in Petersburg war im großen Maßstabe genau derselbe, wie wir ihn in Belaja Tscherkow erlebt hatten. Doch das Einzelne jenes denkwürdigen, furchtbaren Tages steht in den Annalen der Geschichte ausgezeichnet, so daß ich mich mit einer allgemeinen Skizze der Thatsachen begnügen konnte.
Der Eindruck, den diese letzten Nachrichten auf uns Alle machte, war ein niederschmetternder, auch trotz des vollkommenen Sieges. Wenn gleich seit lange durch Sherwood auf Alles vorbereitet, diese Tiefe des Abgrunds, diese verwegene Entschlossen-