Heft 
(1885) 39
Seite
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Sherrvood von Julius Grosse.

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heit, das Grauenvollste zu wagen, übertraf auch die schlimmsten Befürchtungen. Ich möchte sagen: noch lange Zeit bebte der Boden Rußlands unter der Nachwirkung des vulkanischen Ausbruchs fort. Weniger wirkte das Entsetzen über das Geschehene, als der Schrecken darüber, daß dergleichen in unserem heiligen Reiche möglich werden konnte.

Erst jetzt, nachdem der Aufstand auch im Süden überwältigt worden, fand man den Muth, die bis­her unvereidigten Truppen der südlichen Armee in Kiew, Tschernigow, Charkow, Tultschin und in den ganzen westlichen Militärkolonieen für den Kaiser Nikolaus Treue schwören zu lassen.

Aus demselben Felde, wo die verhängnißvolle Revue hatte stattfinden sollen und wo die Ent­scheidung durch die Waffen gefallen war, ging die feierliche Ceremonie ohne einen Laut des Wider­spruchs vor sich. Erst von diesem Tage an war die ganze Truppenmacht des unermeßlichen Reichs in die Hand des Kaisers zurückgegeben.

Unser Rückmarsch nach Süden verzögerte sich Woche um Woche; die unsichere Haltung der polni­schen Bevölkerung in den westlichen Provinzen machte noch längere Zeit die Anwesenheit einer starken mili­tärischen Macht in der Nähe der Grenzen nothwendig. So verging der ganze Winter von 1826 in ermüden­den Hin- und Hermärschen, und erst Ende April rückten wir wieder in Novomirgorod ein.

Da fanden sich denn unter anderen eingelaufenen Schreiben auch mehrere schon veraltete Briefe Sher- wood's aus Petersburg, Briefe, welche zahlreiche Personalnotizen und interessante Einzelheiten ent­hielten, gleichsam zur Erläuterung der Vorgänge, die wir auf anderem Wege bereits wissen konnten und erfahren hatten.

Es würde kaum von Interesse sein, alle diese Briefe mitzutheilen. Was mir am meisten auffiel, war der verzweifelte Ton trotz Sherwood's Sieges­zuversicht, die düstere, selbstquälerische Stimmung trotz der Auszeichnungen, die man einem so wichtigen Werk­zeug der Regierung zu erweisen schien.

Ich ziehe es vor, einzelne Stellen der Briefe im Auszug mitzutheilen:

Wenn dieß Schreiben Sie überhaupt erreicht da Sie auf meine vorigen Briefe schweigen, muß ich es bezweifeln dann wissen Sie bereits Alles, das Ungeheure, das Entsetzliche, das Furchtbare, was wir hier erlebt haben. Nein, Sie wissen gar nichts! Was Ihnen die Zeitungen melden mögen, die unter Censur stehen, oder Privatnachrichten von Augen­zeugen, die auch die Wahrheit nicht sagen dürfen, das Alles sind nur Schatten der Schrecken und Qualen, die wir ausgestanden.

Könnten Sie in mein Herz sehen, Oberst, Sie würden mich vielleicht bemitleiden, trotzdem mich die Anderen verfluchen und wieder Andere beneiden.

Seit ich von Ihnen gegangen bin im Dezember, welch' ein Weltuntergang seitdem! Verlangen Sie nicht, daß ich geordnet erzähle; ich vermöchte es nicht, die Thatsachen und Dinge überstürzen sich so, daß man nichts sieht als ein Chaos.

Sie wissen, Araktschejef ließ mich holen auf Befehl des Kaisers Nikolaus. Am 23. Dezember kam ich hier an. Die ganze Stadt war wie ein Bienenkorb im Ranch. Gleich bei der ersten Audienz fuhr mich der Minister an: Ich müsse nun Alles rückhaltlos bekennen und die Listen wieder Herstellen, oder man werde mich auf die Folter legen.

Ich wußte, es war eine leere Prahlerei von ihm, der letzte Trumpf, den er ansspielte.

Der Kaiser Nikolaus haßt und verachtet ihn, weil er unfähig war, die Verschwörung zu entschleiern. Daß er den Kaiser Alexander an das schwarze Meer geschickt hat, statt unmittelbar in die Militärkolonieen, das wird sein Verderben. Und dann sein Verbrechen in Grusino, wovon ich Ihnen schon sagte. Alle seine Leute dort, es waren gegen dreißig, hat er als Mitschuldige knuten und foltern lassen wegen des Mordes. Nicht Einer ist lebend davongekommen. Diese Schandthat ist allgemein bekannt hier und wird ihm den Hals brechen. Das ist ein abgethaner Mann, ein todter Mann.

Darum fürchtete ich auch seine Drohungen nicht, sondern stellte mich unter den Schutz der Regierung und des Kaisers, das heißt, ich verlangte volle Frei­heit der Bewegung, wenn ich der Regierung nützlich sein sollte. Und das ist mein Glück geworden. So konnte ich das Letzte wenigstens versuchen, zu warnen, zu forschen, das Schreckliche zu verhindern. Aber die Rasenden wollten nicht hören. Seit den ursach- losen Verhaftungen der Abreisenden durch Araktschejef ist Alles in Wuth. Jeder sieht das Schwert über sich und das Losschlagen ist unvermeidlich geworden.

Ich werde Ihnen das Einzelne einst mündlich erzählen; glauben Sie nur, ich habe gethan, was menschenmöglich war. Ich war bei Rylojef, bei Trubetzkoi, bei Oblenski; als Emissär des Süd­bundes konnte ich mich hinreichend legitimiren, und so wurde ich in alle Versammlungen mitgenommen. Leider waren alle meine Vorstellungen umsonst. Man kann zu solchen Unternehmen doch keine Proben halten wie Zu Wachparaden/ wurde erwiedert, und Rylojef rief: Man muß doch anfangen, man muß doch etwas thun! Der Anfang und das Beispiel werden Früchte tragen!'

So wurde ich doch wenigstens Zeuge aller ihrer Pläne, und das genügte mir. Wenn ich das wäre, Herr Oberst, wofür Sie mich halten, könnte ich sagen: nachdem ich sah, daß alle meine Warnungen umsonst und daß das Verbrechen unausbleiblich, ver- rieth ich Alle mit kaltem Blut. Und damit habe ich ein gutes Werk gethan.

Der Plan war einfach, aber umfassend. Auf dem Jsaaksplatze sollte der Eid verweigert werden, erst für Nikolaus, dann auch für Konstantin. Wenn das geglückt, sollte eine provisorische Negierung von fünf Mitgliedern eingesetzt, zuvor aber der Thron für erledigt erklärt werden. Mit Hülfe des Reichsraths und des Senats sollte diese provisorische Regierung das Staatsruder führen, bis die Abgeordneten des ganzen Reichs den Grund zu einer neuen Verfassung gelegt hätten. Gleichzeitig wollte man den Winterpalast, die Ministerien, die Banken und das Postamt besetzen, um jeder Unordnung und Eigenmacht vorzubeugen.