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Sherwood von
kleine Verwirrung unter den noch folgenden, in der Ebene heransausenden Wagen unvermeidlich war.
Man machte mich darauf aufmerksam, daß Sher- wood meinen Namen rufe.
Ich fuhr jetzt außer der Reihe etwas näher heran, bis ich ihn zn Gesicht bekam.
„Zum Teufel, Oberst," rief er, „wo haben Sie denn meine Pistolen gelassen? Sie haben sie zuletzt in Händen gehabt."
„Aber, bester Freund, die Schuld wird Wohl beiderseits sein. Ich meinte, Sie hätten sie heute im Park wieder mitgenommen. Nun werden sie noch dort liegen ans der Bank. Aber wozu den Aufenthalt? In der Stadt werden Sie andere bekommen. Vorwärts!"
„Aber keine englische Arbeit!" ries er zurück, „und dann sind sie ein Andenken an meinen Vater. Bleiben sie eine Nacht im Than liegen, so sind sie verdorben. Ich muß sie holen. Aus eine halbe Stunde Aufenthalt wird es nicht ankommen."
Damit sprang er aus dem Wagen.
„Aber so schicke doch den Kuzmin, unfern Vorreiter!" rief jetzt Nadjeschda. „Er weiß genau Bescheid. Wir können unterdessen langsam weiterfahren."
- Und so geschah es. Kuzmin erhielt genaue Instruktion, ans der Bank unter den Trauerweiden am See nachznsehen, und jagte alsbald auf seinem Klepper in rasendem Galopp zurück.
Durch den Aufenthalt war Sherwood's Telega allmälig eine der letzten geworden, denn manche der anderen Kutscher, die ihre Rosse nicht bändigen konnten oder wollten, waren mittlerweile vorans- gesahren.
Endlich setzte sich die lange Karawane wieder in regelmäßige Bewegung, und der Zwischenfall gab Anlaß zu allerlei Zuruf, Scherz und Gegenrede. Sherwood, der in der besten Laune mit dem Jspraw- nik und seinen Töchtern Worte wechselte, schritt die letzte Steigung der Straße zn Fuß bergan.
Soeben war die Höhe des Hohlwegs erreicht, und Sherwood befahl seinem Jswoschtschik zu halten, um wieder die Telega zn besteigen, als uns ein elendes Fuhrwerk mit struppigen Pferden in kurzem Trabe eutgegenkam und an uns vorüberrasselte.
Außer dem Kutscher saßen zwei Personen darin, ein Herr und eine Dame, Beide von Staub bedeckt wie das ganze Gefährt. Sie kamen so nahe an uns vorbei, daß man sich hätte die Hände reichen können.
Die Dame, deren Hutschleier zur Seite wehte, schien mir nicht unbekannt, auch den Herrn glaubte ich schon gesehen zu haben, aber während ich noch nachsann, erscholl plötzlich Nadjeschda's Stimme: „Tatiana!" und sie streckte ihre Hände aus.
Im selben Moment stieß auch Sherwood einen Ruf des Erstaunens aus und wandte sich, so daß seine Gestalt auf der Höhe des Passes sich scharf und groß von dem rothglühenden Himmel abhob.
Aber auch aus dem fremden Fuhrwerk scholl ein Zuruf zurück — es mochte kaum zwanzig Schritte von uns entfernt sein, der Herr darin hatte sich umgewandt
— da plötzlich ein Blitz und ein Knall — und im nächsten Moment stürzte Sherwood zusammen.
Julius Grosse.
Alles das war viel schneller geschehen, als es hier erzählt werden kann. Als ich mich nmsah, war das fremde Fuhrwerk, bergab sausend, schon in hohen Staubwolken nach Tarussa zn verschwunden.
Die Szene, die nun folgte, spottet jeder Beschreibung. Schrecken, Geschrei und Tumult ans allen Seiten. Die vom Schuß erschreckten Pferde bäumten sich, die Jswoschtschiks fluchten, die Frauen kreischten aus, und in wilder Bewegung fuhren die Wagen durcheinander. Bald war der Hohlweg nur ein unentwirrbarer, dichter Knäuel von Fuhrwerken, Menschen und Thieren.
Sherwood, der schwer verwundet war, hatte sich mühsam noch einmal aufgerafft und war bis zum Rand der Straße gekommen, wo er abermals zusammenbrach. Dort lag er nun unter den Brombeerranken und neben ihm Frau Nadja in tiefer Ohnmacht.
Alle anderen Herren, auch mehrere Damen waren inzwischen aus ihren Wagen gesprungen und drängten sich um den Verletzten. Jetzt, nachdem der erste lähmende Bann des Entsetzens geschwunden war, sprachen Alle durcheinander.
Als ich zu Sherwood trat, streckte er mir seine Hand entgegen und seine bleiche Lippe flüsterte etwas, aber so leise und unverständlich, daß ich mich Zn ihm niederbeugen mußte.
„Es war Bulgari," sagte er, „ich habe ihn erkannt. Wie kommt der hieher und mit Tatiana? Sie müssen entflohen sein — o, ich ahnte es, daß —" Hier verlor er wieder das Bewußtsein.
Mit vieler Mühe glückte es endlich, in dem heillosen Getümmel Ruhe zu stiften und mit Hülfe einiger Freunde den Schwerverwundeten wieder in die Telega zu heben. Schließlich, nachdem auch die Verwirrung der durcheinandergefahrenen Wagen gelöst war, gelang es, Schritt für Schritt den Rückzug nach Tarussa anzutreten.
Die meisten fremden Gäste wandten ebenfalls, wie ans Verabredung, ihre Telegen, um mit nach Tarussa zurückzufahren. Nicht bloß das persönliche Interesse für den Verwundeten und seine beklagens- werthe Frau, auch die Neugier bannte sie, zu erfahren, wie das unbegreifliche Verbrechen Zusammenhänge. Sicher schien, daß der Schlüssel des Näthsels in Tarussa allein zn finden sei.
Frau Nadjeschda war inzwischen von hülfreichen Händen in den Wagen des Jsprawnik gebracht worden, wo sie sich allmälig erholte. Nun wollte sie durchaus in die eigene Telega zu Sherwood, um ihn in ihren Armen zu halten. Aber dieß ward von Niemand zugestanden, man fürchtete dabei nicht minder für den Verwundeten, der bewußtlos ausgestreckt lag, als für sie selbst.
So ging sie denn zu Fuß neben der Telega her, ihren Blick unabwendbar auf den Gatten gerichtet. Ich und mehrere Andere begleiteten die unglückliche Frau, ebenfalls zu Fuß schreitend.
Frau Nadjeschda war marmorbleich, aber nachdem der erste furchtbare Eindruck überwunden, hatte sie bald ihre völlige Fassung wiedergewonnen.
„Ich wußte es, daß es so kommen würde," sagte sie, „nicht heute, aber eines Tags. Nur so