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Deutsche Roman-Bibliothek.
rasch, so entsetzlich schnell und gerade hier hatte ich es nicht erwartet. O, Tatiana, Tatiana — was hast Dn mir gethan!"
Ich verstand damals nicht, warum sie die verbrecherische That sofort der Schwester zuschob. Offenbar hielt sie Bnlgari für das gehorsame Werkzeug Tatiana's. Ich wußte zwar, daß er zu der Zahl Derer gehörte, die ans Lebenszeit zu Zwangsarbeit in Sibirien verurtheilt waren. Wie kam er jetzt hieher mit der Frau seines Freundes? Hatte Wad- kowski ihm seine Rache übertragen und wo war der Gatte Tatiana's geblieben? Jedenfalls mußten abermals traurige Ereignisse gespielt haben, die allein die Schreckenstat erklärlich machten.
.. Als nun der lange Wagenzug, der kaum vor einer Stunde lärmend und festlich davongesahren, jetzt still und langsam wie ein Leichenkondukt zurückkam, liefen alle Bewohner des Dorfes zusammen.
Unweit der Brücke, die über den Abfluß des Sees führt, kam uns der Kosak Kuzmin mit verhängtem Zügel entgegen, die vermißten Pistolen hoch in der Hand haltend.
Jetzt bei dem Anblick des zurückkehrenden Zuges hielt er sein Pferd an.
Ich fragte ihn, ob kein fremdes Fuhrwerk inzwischen angekommen.
Er nickte und deutete zum Herrenhause. „So ist's, Gospodin, vor der Freitreppe sind sie vorge- sahren. Frau Tatiana ist herausgesprungen und in's Schloß hinein. Der Fremde aber ist gleich weitergefahren, schien große Eile Zu haben. Herr im Himmel, wie sah die Gnädige aus! Und was ist denn hier geschehen? Alle Heiligen — der Kapitän todt — nun geht die Welt unter!"
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Als die Wagenkarawane endlich das Schloß erreichte, war bereits die Dämmerung hereingebrochen, aber in der warmen Luft schwebte noch jene unbestimmte, fahl schimmernde, silbergraue Helle, welche die Sommerabende Rußlands so magisch und durchsichtig macht.
Die Rosse der Telega, in welcher Sherwood lag, hatten ihren Weg von selbst gesunden. Als sie jetzt vor der Freitreppe hielten, wurde Tatiana auf der Rampe sichtbar — bleich wie ein Schatten, dazu ihre lodernden Augen, eine Gestalt, unheimlich wie eine Schicksalsgöttin — und neben ihr der alte Uschakoff. Ich erwähnte schon, daß er sich beim Festmahl bedeutende Libationen erlaubt. Jetzt stand er neugierig um sich schauend, mit heiserem Lachen und fortwährendem Kopfnicken die Nahenden begrüßend. Er begriff offenbar nichts von Allem, was geschehen war und was um ihn vorging, selbst als Tatiana ries: „Was wollt ihr hier? Bringt ihr Sherwood? Fort mit dem Verräther, dieß Haus ist ihm geschlossen!"
Ich war inzwischen die Freitreppe hinangestiegen und ergriff die Erregte am Arm.
„Bedenken Sie, wo Sie sind und was Sie thun, Tatiana Jwanowna."
„Das weiß ich ohne Sie!" sagte sie heftig. „Ich bin in meinem Vaterhause und mache reinen Tisch. Wer will mich daran hindern!"
„Es handelt sich um einen Sterbenden."
„Hat er wirklich seinen Lohn empfangen? Das freut mich!" rief sie. „Mag er sterben aus der Straße am Zaun. Er hat es verdient um meinen Mann und um die Anderen. Mag er zu Grunde gehen, der Elende, der Alle in's Verderben gebracht hat. Dieß Haus hat keine Stätte für ihn!"
„Ja, ja," lachte der alte Uschakoff. „Sag's ihnen nur, Tochter, sag's ihnen nur. Dir kann der Kaiser nicht an. Der Sarasan hat seine Kronrechte für sich. O, ihr Weiber habt Schwerter im Munde und Fackeln in den Augen, wenn ihr wollt. Richtet nur die Welt zu Grunde, sie ist keinen Solotnik Werth! Bist Du wieder da, Nadja, mein Täubchen, mein Lamm, mein Engel? Ich Hab' Dich gleich nicht lassen wollen. Komm', Püppchen, komm'! Fremdes Brod ist sauer; die Schlehen im Vaterhaus sind süßer als des Zaren Pirroggen. Komm', Kindchen, heut wollen wir tanzen, nach Moskau geht es ein andermal."
Man mußte den Sinnlosen halb mit Gewalt in's Haus bringen.
Inzwischen hatten viele der Angekommenen ihre Telegen verlassen und schaarten sich vor der Freitreppe, während Tatiana noch oben stand.
Hunderte von Fragen tönten dem Mannweib entgegen, denn anders kann ich sie nicht bezeichnen.
„Wer war der Thäter des Mords?"
„Wer — nun, ich kann ihn ja nennen. Graf Bnlgari war's, der Einzige, den ich erlösen konnte aus den Ketten. Fangt ihn doch, wenn ihr könnt, schickt alle Kosaken hinter ihm her — er kann ihrer lachen. Morgen ist er in Polen!"
Und wieder neuer Tumult der Stimmen. „Aber das ist ja empörend, himmelschreiend. Was soll denn Sherwood gethan haben?"
„Was er gethan hat, der Bube? — Ich glaubte, seine Schande sei offenbar. Er war der falsche Freund, der sich bei den Brüdern eingeschlichen hat seit Jahren. Der Spion, der Alle umgarnt, um sie dann schmachvoll dem Henker anszuliefern. Fünf an den Galgen, über Hundert in's Elend, in die Wüsten des Todes. Ihr Blut und ihre Thränen kommen über ihn. Jedes Erbarmen ist Sünde, und wenn ihn der Kaiser hundertmal belohnt und vergoldet, hundertmal ist er von uns verflucht!
„Ja wohl, ihr habt ihn bewundert, habt euch gebeugt vor ihm, dem falschen Götzen, ich aber reiße seinen erstohlenen Glanz herunter, zeige ihn in seiner wahren Gestalt, was er war und ist, ein Meineidiger, ein Schurke, ein feiler Angeber. Drum weg von dieser Schwelle; mag er verfaulen auf dem Anger wie ein Hund!"
Ebenso unmöglich wäre es, den Eindruck ihrer furchtbaren Worte zu schildern, als es unmöglich war, der Rasenden Einhalt zu thun, die mit rascher Kühnheit das Szepter der Herrschaft im Hause ergriffen hatte und nun schaltete und waltete und — was das Auffallendste war — sofort blinden Gehorsam fand.
Man brachte Sherwood ans der Telega vorläufig in ein Seitengebäude, wo der alte Kuzmin seine Wohnung hatte. Iwan, der Wolssjäger, wollte