Sherwood von Julius Grosse.
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den Schwerverwundeten auf Geheiß der Herrin Zuerst in einem offenen Schuppen, einer modrigen Wagenremise, zwischen Holz und Heu niederlegen, aber das duldete der wackere Alte nicht. Er öffnete sein bescheidenes Stübchen und breitete einen mächtigen Bärenpelz über die Strohschütte seines Lagers.
Dort wurde Sherwood, der Getreue, der geadelte kaiserliche Kapitän, zur Ruhe gebracht.
So war's denn geschehen, daß seine Schuld und sein Geheimniß gleichsam öffentlich an den Pranger gestellt worden, zum Entsetzen der biederen Provinzleute. So loyal sie Alle dachten, dem Verräther verzieh dennoch Niemand. Und als sie nun vollends die aufrührerischen, hochverrätherischen Reden Tatiana's hörten, wurden sie allmälig bestürzt, erschreckt, und Einer nach dem Andern entfernte sich schweigend. Das bloße Thema der Verschwörung wirkte wie ein Medusenhaupt erstarreud und lähmend. Binnen einer- halben Stunde hatten die Meisten sich plötzlich empfohlen und fuhren davon, der Eine nach Norden, der Andere nach Süden. Nur der würdige Jsprawnik hatte es sich nicht nehmen lassen, über den Vorfall des Tages ein feierliches Protokoll aufznnehmen, welches der Pope Smirnofs und ich als Zeugen unterschreiben mußten.
Die salbungsvolle Miene des alten Gönners und Freundes der Familie war in der letzten halben Stunde streng und drohend geworden. Und sicher war es entweder der Rest langjähriger Hochachtung und Ehrfurcht vor dem Hause Uschakoff oder der allerletzte Beweis seiner Diskretion, daß er Frau Tatiana, die gefährliche Genossin von Hochverräthern, nicht sofort verhaftete. Mit trockenen Worten empfahl er sich und fuhr ab, um alle verfügbaren Pristaws zur Verfolgung Bnlgari's auszubieten.
Ueber allen diesen Vorgängen war es inzwischen völlig Nacht geworden.
Frau Nadjeschda, um auf sie zurückzukommen, hatte sich gleich anfangs den Schaaren der Neugierigen entzogen. Sie war innerlich gebrochen und die furchtbaren Worte der Schwester trafen sie vollends iu's innerste Mark. Ohne ein Wort zu sagen, war sie demüthig und unscheinbar entwichen. Dort in dem elenden Zimmer Kuzmiu's, wo ihr Gatte auf dem Stroh lag, saß sie neben dem Verwundeten, um ihn zu pflegen und für ihn zu beten.
Leider war weit und breit kein Arzt auszutreiben, und aus Smolensk wäre unter achtundvierzig Stunden keine Hülfe zu erwarten gewesen. Glücklicherweise verstand sich der alte Kuzmin auch aus Wunden. Aus einem Wandschrank hatte er Verbandzeug, Salben und Tropfen herbeigebracht, um selbst den ersten Verband anzulegen. Sein Kennerauge schien nach der oberflächlichen Untersuchung der Wunde nichts Gutes zu weissagen.
Als ich zu ihm trat und ihn vor die Thür winkte, flüsterte er:
„Er wird den Morgen nicht erleben, Gospodin; die Kugel sitzt in der Brust. Sorgen Sie nur für die arme Frau."
Selbstverständlich hatte ich längst beschlossen, in Taruffa zu bleiben. Es war meine Pflicht, die
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Wehrlose vor ihrer halb rasenden Schwester zu schützen, war doch auch sonst kein Mann anwesend, dessen Wort Ansehen und Gehör bei den Dienst- lenten fand.
Frau Tatiana spielte die Nolle einer alleingebietenden Herrin noch stundenlang fort. Ununterbrochen erging sie sich in wilden Reden, drohenden Anklagen und aufrührerischen Tiraden. Endlich wurde es mir zu viel. Als sie, einen brennenden Armleuchter in der Hand, wieder durch alle Räume des Schlosses stürmte, folgte ich ihr in einen Gartensaal des Erdgeschosses, schloß hinter uns die Thür ab und erklärte ihr rundweg, daß ich im Hause des Todes Ruhe und Frieden wünsche. Zugleich befahl ich ihr, zu Bett Zu gehen.
Zuerst zwar überschüttete sie auch mich mit spitzen Reden und leidenschaftlichen Vorwürfen; am liebsten hätte sie ihr Hausrecht geltend gemacht, um mich ohne Weiteres zu entfernen, wenigstens schien sie vorauszusehen, daß ich wie damals beim Popen Smirnofs meine Wohnung nehmen würde. Dein entgegen erklärte ich ihr ohne Umschweife, daß ich schon seit gestern hier wohne und bleiben würde.
Daun machte ich sie darauf aufmerksam, daß ihr Erscheinen überhaupt ernste Folgen haben werde, daß die Thal Bnlgari's und seine Flucht sie selbst kompromittire, daß die Regierung sich sicher mit ihr beschäftigen werde und daß sie froh sein könne, einen Schutz in mir zu haben, auch daß es nöthig sein werde, weitere Maßregeln zu ihrer Sicherheit baldigst zu berathen.
Erst nach diesen Vorstellungen und als sie sah, daß sie entschlossenen Widerstand fand, wurde sie fügsamer und kleinlauter.
Endlich bequemte sie sich sogar, aus meine Fragen zu antworten. Geschah es auch kurz, widerwillig und unzusammenhängend, so gelang es mir doch, das Thatsächliche der Vorgänge ziemlich deutlich sest- zustellen.
Wir hatten inzwischen Platz im Gartensaal genommen, Tatiana aus einem Divan, ich aus einem Armstuhl am offenen Fenster. Die erdrückende Schwüle der sternlosen Sommernacht wich erst, als das Gewitter, das inzwischen heraufgezogen, zum Ausbruch kam. Majestätisch rollten die Donnerschläge über die weite Haide und oft sekundenlang stand der Gartensaal in blendender Helle, so daß die Lichter des Armleuchters zu fahlen Flämmchen wurden.
Aus den bruchstückweisen Bekenntnissen Tatiana's ging Folgendes hervor:
Wie Sherwood schon angedeutet, hatte sie sich, ebenso wie andere Verwandte und Freunde der Ver- urtheilten, genaue Kenntniß verschafft, auf welcher Straße die Reise nach Sibirien erfolgen werde.
Dieser Weg ging — und zwar bei Allen ohne Ausnahme — über Schlüsselburg, Tichwin, Ustiunga, Mologa, Rybinsk, Jaroslawl, Kostroma und weiter über Wiätka und Perm nach Tobolsk.
Jedem der Verurtheilten wurde ein Gendarm Zugetheilt, und da immer vier zugleich abgefertigt wurden, so befanden sich demnach bei jedem Transport vier Gendarmen außer dem Feldjäger, der die
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