Heft 
(1885) 42
Seite
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Deutsche Roman-Bibliothek.

Oberleitung hatte. An ein Entrinnen war unter­wegs nicht zu denken. Trotzdem wurde mancher kühne Plan entworfen.

Mehrere Damen, Frauen, Schwestern, Mütter der Verurteilten reisten voraus, um an den be­stimmten Orten, wo regelmäßige Rast gehalten wurde, Quartier zu machen und dort zum letzten Mal ihre Lieblinge wiederzusehen und zu pflegen, unter Um­ständen auch ihren Schergen zu entreißen.

Darauf gründete sich auch Tatiana's Plan. Solche Befreiungsversuche waren übrigens auch sonst nicht allzu selten, zumal wo das Volk geneigt war, Zu helfen. Auch find damals wirklich mehrere Ver­urteilte unterwegs befreit worden. Besonders in Jaroslawl kam es wiederholt zu Revolten, obschou das Nähere unbekannt geblieben, denn die Regierung unterdrückte jede Kunde. Mag denn dieß eine Bei­spiel auch für die anderen sprechen. In ähnlicher Weise, wie Tatiana Zn Werke ging, ist es auch in anderen Fällen geschehen.

Tatiana also war mit einigen anderen vornehmen Damen bis nach Jaroslawl vorausgereist und hatte dort in demselben elenden Gasthause, wo die Trans­porte zu halten pflegten, einige Zimmer im Erd­geschoß gemietet.

Die Eisenstangen an den Fenstern wurden schon in der nächsten Nacht durchfeilt.

Aber nun kamen qualvolle Tage. Viele Trans­porte langten an, ohne die Erwarteten zu bringen. Aber mit allen diesen Unglücklichen, die mit Eisen­ketten gefesselt waren, sprachen die Damen, erquickten sie mit Lebensmitteln und beschenkten sie mit Kleidern. Dabei erlangten sie einige Gewandtheit, auch mit den Gendarmen und Feldjägern umzugeheu, ihre Teil­nahme zu erwecken, ohne ihren Verdacht zu erregen.

Endlich am zehnten Tage gegen Abend erschien der längstersehnte Wagen mit Wadkowski, der beim Anblick seiner Gattin laut ausschrie und sich beinahe verrathen hätte. Zufällig befand sich unter den Vieren, die gleichzeitig ankamen, auch Bulgari, sein treuester Freund und Schicksalsgefährte.

Noch ein anderer Umstand kam zu Hülse. Auf der zurückgelegten Strecke waren in Folge einer Spitz­büberei des Kuriers bereits drei Pferde zu Grunde gegangen. Nach dem Gesetz hatte er jeden Wagen nur mit zwei Verurteilten zu besetzen und darnach seine Kosten zu berechnen. Jetzt hatte er den Wagen mit Vieren überladen, ohne die Zahl der Pferde zu vermehren. Dafür steckte er das Vorspaungeld für einen Weg von dreitausend Werst in die Tasche. Was lag an den Pferden, die dabei geopfert wurden. Aber eben dieses Umstands halber wurde nun ein längerer Aufenthalt notwendig, denn in der Schnellig­keit war die erforderliche Anzahl von Pferden nicht aufzutreiben. Man war sogar gezwungen, die Nacht zu bleiben.

Inzwischen hatten die Damen eine Konversation mit dem Feldjäger angesponnen. Sie erkundigten sich nach gewissen Verurteilten, als nach ihren An­gehörigen, aber nach ganz anderen, die erst später ankommen mußten.

Dabei boten sie den Anwesenden wie aus Mit­leid eines der gemieteten Zimmer mit Betten an

und ließen den Gendarmen reichliche Spenden ihres beliebten Nationalgetränkes zukommen, bis sie schließ­lich Alle des Guten zu viel getan und schnarchend auf den Bänken lagen, allerdings mit Ausnahme des Feldjägers, der nichts angenommen hatte.

Die Verständigung mit den Gefangenen selbst wurde in sinnreicher Weise hergestellt.

Die Damen saugen hie und da einzelne Stellen aus französischen Chansons, natürlich mit veränder­ten Worten; singend erkundigten sie sich nach Allem, was sie wissen wollten, und singend erhielten sie Antwort. Diese geistreiche Art offener Mittheilung war schon in der Peter-Paulsfestung üblich gewesen, und so gelang es auch in Jaroslawl.

Indem die Damen harmlose Couplets trällerten, kündigten sie alle ihre Vorbereitungen und Befreinngs- pläne an, theilten mit, wo sie die nöthigen Feilen finden würden, um sich der Ketten zu entledigen, und daß sie selbst um Mitternacht draußen hinter dem Hofe mit ihren Wagen warten würden.

Nach allen diesen Verabredungen ging man zur Ruhe.

Die Gefangenen erhielten das Zimmer mit den Betten, und die Damen schlossen sich in ein anderes ein. Alles schien nach Wunsch zu gehen und Alles wäre gelungen ohne einen fatalen Zwischenfall. Einige der Feilen wurden unbrauchbar, man mußte nach einander arbeiten statt gleichzeitig.

Wadkowski kam erst zuletzt zu Stande und glaubte mit Hast und Eile die versäumte Zeit eiuholen zu können.

Endlich war er fertig, und mit lautem Krachen sielen seine Ketten zu Boden. Diese Unvorsichtigkeit wurde sein Verderben.

Zwar die Thür zum großen Gastzimmer, wo die Gendarmen schliefen, war sicher verriegelt, aber der Feldjäger, vom Klirren der Ketten aufmerksam gemacht, begehrte Einlaß. Inzwischen gelingt es den Anderen, durch das Fenster auf den Hof zu ent­kommen. Wadkowski läßt ihnen den Vortritt ans Noblesse. Im Moment, als er selbst das Fenster erreicht, wird die Thür gesprengt. Es kommt zum Kampf. Einen der Schergen streckt er mit einem Faustschlag zu Boden und den Feldjäger ersticht er mit dem Säbel des Gendarmen, er selbst aber wird verwundet, überwältigt und Zu Boden geschlagen.

Im nächsten Moment wären auch die Anderen, welche sich bereits zu den rettenden Wagen geflüchtet hatten, verloren gewesen und mit ihnen die Damen. Sofortige Flucht war die einzige Rettung. So war es gekommen, daß Bulgari in der Telega Tatiana's, mit der Frau des Freundes, entfloh.

Zwar wurden sie einen Tag lang verfolgt und wären auch eingefangen worden, wenn nicht Bulgari den Kosaken niedergeschossen hätte. Seitdem hielt er die gespannte Waffe allezeit schußfertig in der Hand. Tag und Nacht flog die Telega ans ent­legenen Straßen durch Steppen und Wälder nach Süden; aber was sollte nun geschehen, nachdem Wadkowski durch eigene Schuld im Stiche gelassen und rettungslos verloren schien!

Bulgari war bereit, die Frau des Freundes mit in das Ausland zu nehmen. Tatiana aber wies