Heft 
(1885) 42
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Sherwood von Julius Grosse.

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diesen Vorschlag zurück, sie hoffte noch, daß Wad- kowski nur ungefährlich verwundet sei und wieder genesen werde. Dann wollte sie ihm nach Sibirien folgen, wie dieß in der Folge auch die Fürstin Narischkin, die Trubetzkoi und andere heldenmütige Frauen dnrchgesetzt haben. Einstweilen aber sollte sie Bulgari in die Heimat nach Tarnssa bringen. Dort hoffte sie am ehesten unentdeckt in Sicherheit zu bleiben.

Und so war es geschehen: sie hatte glücklich das Vaterhaus erreicht, und Bulgari war weiter entflohen

nach Polen.

Alles das erzählte Tatiana, zuerst abgebrochen und widerwillig ans meine Fragen antwortend, dann aber im Zusammenhang mit fliegendem Athen: und blitzenden Angen. Ich muß gestehen, daß mir die Entschlossenheit dieser Amazone nicht wenig imponirte. Ihr Muth und ihre Thatkraft wären wohl einer besseren Sache würdig gewesen, und nun war eii: neues Verbrechen dazu gekommen, um ihre Lage zu einer bedenklichen zu machen.

Noch während wir über das Letztere sprachen, tönte plötzlich das Glockenspiel der Schloßuhr durch die nächtliche Stille. Mitternacht war bereits heran­gekommen.

Zufälligerweise spielte das Glockenspiel, das aus Deutschland stammte, dießmal die Melodie des Kirchen­liedes:Jesus meine Zuversicht", so daß Tatiana unwillkürlich die Hände faltete.

In diesem Moment öffnete sich die Thür und der würdige Pope Wassili Smirnoff erschien, schritt auf uns zu und reichte uns schweigend die Hand.

In seiner ernsten, feierlichen Miene war zu lesen, was geschehen: Sherwood hatte ansgelitten.

Was soll ich sonst noch von jener traurigen Nacht berichten? Nadjeschda war von der alten Sascha zu Bett gebracht worden. Die Todtenwache hielt der alte Kuzmin. Von uns dachte Niemand daran, zur Ruhe zu gehen. Wir blieben die ganze Nacht bis zum dämmernden Morgen beisammen.

Auch der alte Uschakoff wurde wieder sichtbar; hohläugig, bleich, übernächtig, wie ein wandelndes Gespenst; aber er war wenigstens wieder völlig zu sich gekommen. Daß Tatiana wieder zurückgekehrt war, ließ ihn so gleichgültig, als wenn es sich von selbst verstände. Nach ihrem Gatten fragte er ebenso­wenig als nach Sherwood, und doch war's, als ob er deutlich um Alles wisse, was heute vorgefallen. Sein eisgrauer Kopf nickte fortwährend vor sich hin und seine Lippen murmelten Unverständliches. Nur einmal vernahm ich:Ja, ja, Gottes Mühlen mahlen langsam, aber sie mahlen fein."

Jetzt hielt ich es an der Zeit, den Anwesenden

es waren außer dem Popen noch Tatiana und der alte Uschakoff ausführlich zu erzählen, wer und was Sherwood eigentlich gewesen daß er allerdings der erste Angeber, daß aber pon ihm zu­gleich alle jene Warnungen ansgegangen, weiter, daß es wahrscheinlich seiner Beredsamkeit allein gelungen, die Umwandlung des Todesnrtheils für Vierzig in Verbannung zu bewirken daß somit Bulgari eigentlich seinen Wohlthäter gemordet und einen edlen Menschen geopfert, der in ein tragisches Geschick ver­

flochten, weil er seine Pflicht gethan, wobei sein feinfühliges Gewissen ihm Marter genug bereitet für das, was er zu thun gezwungen.

Sichtlich übte diese Aufklärung ihre Wirkung auf Tatiana aus, obschon ihre leidenschaftliche Erbitterung mir es nicht zugestand.

Sie sind immer sein Vertheidiger gewesen," ries sie im Zorn; aber freilich nur Ihnen, als ge­treuem Knecht des Kaisers, kann ein feiger Verräther noch ein Märtyrer sein. Nun hat ihn sein Schicksal ereilt, und wär' es nicht heut gewesen, wär's morgen so gekommen oder noch nach Jahren, denn Alle haben ihm den Tod geschworen, Alle, ohne Aus­nahme. Daß er das Todesurtheil angeblich gemildert, dankt ihn: Keiner. Sibirien ist mehr als der Tod, und die Helden, die in Petersburg gestorben, sind noch zu beneiden gegen die Anderen. Besser, sie wären Alle gestorben und wir mit ihnen!"

Nach diesen Worten erhob sie sich und schritt davon.

Gleichwohl setzte sie von diesem Augenblick an meinen Anordnungen keiner: weiteren Widerstand entgegen. Sie ließ es ruhig geschehen, daß Sher- wood's Leiche am andern Tage im Schloß feierlich anfgebahrt wurde.

Die nähere Untersuchung, welche der alte Kuzmin vornahm, ergab, daß Bulgari's Kugel die Lunge Sherwood's durchbohrt hatte, so daß er an innerer Verblutung gestorben war.

Sein Begräbniß fand seinem Wunsche gemäß im Park statt. Unter jenen Trauerweiden hinter der Bank ans Baumzweigen wurde er bestattet.

Da die Krönung des Kaisers Nikolaus schon in den nächsten Tagen Anfangs September stattsand, beschloß ich, lieber sofort meinem Vorhaben zu ent­sagen und die Reise nach Moskau ganz aufzngeben. Unumgänglich nothwendig war meine Anwesenheit bei der Krönung um so weniger, als kein bestimmter Befehl vorlag und ohnehin noch andere Offiziere unseres Regiments dazu designirt waren. Ich theilte diesen Entschluß meinem Regimentskommandeur mit und blieb nunmehr in Tarnssa, nicht bloß um die in Verwirrung gerathene Verwaltung der Güter und des Vermögens zu ordnen, auch um sonst den beiden Frauen eine Stütze Zu sein.

Der alte Uschakoff war seit jenem Tage noch stumpssinniger und unzurechnungsfähiger geworden. Er vegetirte nur noch wie ein greiser Banin, der seine Zweige zum Lichte streckt.

Nach etwa zwei Wochen kam ein Brief an Ta­tiana. Er enthielt eine Warnung, daß die Vorgänge in Jaroslawl untersucht und ihre Theilnahme an der Befreiung der Gefangenen konstatirt worden sei. Sie möchte fliehen so bald als möglich, wenn sie weiterer Verantwortung und Ahndung entgehen wolle. Von wem der Brief kam, war nicht anszuhellen. Ich vermuthe, daß ihn der wackere Jsprawnik der nächsten Kreisstadt selbst geschrieben hatte, um ihr wohlwollend eine goldene Brücke zu bauen.

Die verhängnißvollste Stelle im Brief war, daß Wadkowski noch in Jaroslawl seinen Wunden er­legen sei.

Tatiana ertrug diesen Schicksalsschlag wie in dumpfer Betäubung, sie nickte vor sich hin.