Heft 
(1885) 43
Seite
1029
Einzelbild herunterladen

Die tolle Betty von Hans Wachenhusen.

1029

der Thiergartenstraßen hinausging, wohnte seit Jahren Moritz Goldmann, ein reicher Geschäfts­mann. Er kaufte namentlich in Polen ganze Wal­dungen, trieb sein Holzgeschäst nach allen Richtungen und war eine der leitenden Persönlichkeiten dieser Branche. Er war jetzt ein Mann von fünsundvierzig Jahren, robust, mit flaschengrünen Augen, breitem, wohlgenährtem, geröthetem Antlitz, dunkelblondem Haar und Vollbart und sinnlichen, starken Lippen. Sein Gesicht war ganz das eines Geschäftsmannes; keine Muskel, kein Nerv störte je die absolute Ruhe desselben oder versuchte es, einen selischen Vorgang in ihm zu verrathen.

Seine Gattin Gabriele war mit sechsunddreißig Jahren noch eine schöne Frau geblieben. Die Geburt ihrer drei Kinder hatte dem Ebenmaß ihrer schlanken Gestalt keinen Schaden gethan. Ihr Teint war noch frisch; sie trug gern das dunkelbraune Haar tief über die Stirn gelegt, unter der ein Paar greller brauner Augen hervorschauten; um ihre Taille konnte sie ein Mädchen beneiden.

Und diese schöne Frau, wollte man wissen, wurde seit Kurzem auffallend von ihrem Gatten vernachlässigt. Er, der sonst seine Reisenden hinausgesandt, war jetzt selbst häufig und lange unterwegs. Sein Ge­schäft habe sich so sehr ausgedehnt, meinten die Einen; es sei im Gegentheil znsammengeschrumpft, denn er vernachlässige es draußen und lebe sehr ausschweifend, behaupteten die Anderen.

Wie dem sein mochte, Moritz Goldmann, der sich nie selbst um die Erziehung seiner Kinder bekümmert, nur reichliche Mittel für dieselben hergab, kümmerte sich jetzt noch weniger darum. Die lebenslustige Frau konnte sich nicht entschließen, um des stets ab­wesenden Gatten willen der Gesellschaft zu entsagen; sie besuchte dieselbe ohne ihn. Jedesmal aber, wenn sie in der ausgeschnittenen Salonrobe mit Blumen im Haar und den Fächer in den mit weißen Hand­schuhen bekleideten Händen aus ihrem Toilettenzimmer trat, fragte seit einiger Zeit ihre Tochter Lola, sie bewundernd, aber schmollend:

Mama, warum nimmst Du mich denn nicht endlich mit; ich bin ja doch schon konfirmirt?"

Im nächsten Winter! Du wirst noch genug tanzen können!" war dann immer die Antwort. Es taugt nichts, ein Mädchen zu früh einzusühren. Deine Schulfrenndinnen sind auch noch nicht mit­genommen."

Darüber ging der Winter hin. Aber sie selbst hatte während dieser anstrengenden Saison allmälig die frühere Lust an dem ermüdenden Gesellschafts­wesen verloren. Sie konnte keine Einladung erwiedern, denn wenn Goldmann znrückgekehrt, sprach er sogleich wieder von einer neuen Reise.

Glücklich ist meine Ehe eigentlich nie gewesen," seufzte Frau Gabriele, als sie in schon vorgerücktem Frühjahr nach einer letzten Soiree Morgens im Peignoir vor ihrem Spiegel saß.Glückliche Ehen, wie sie in den Romanen geschildert werden, exi- stircn eben nur aus dem Papier. Ich war auch als Mädchen vernünftiger als die Anderen, die stets nur einen Mann nehmen wollten, den sie wirklich lieben könnten. Ich würde froh sein, wäre es nur

so geblieben, wie es all' die Jahre war; aber immer und immer allein sein mit den Kindern, die mir über den Kopf wachsen! Lola hat schon die Ideen einer großen Dame, sie probirt heimlich meine Roben an, wenn sie sicher ist, nicht überrascht zu werden, und hat für den Privatunterricht, dessen sie noch so sehr bedarf, keinen Sinn mehr. Egon, der so lange ein Muster von Fleiß gewesen, treibt sich jetzt als Sekun­daner mit seinen Kameraden umher; wie soll ich arme Frau ihn beaufsichtigen! Er gehorcht mir nicht mehr. Ich will heute mit Goldmann sprechen; er ist in der Nacht unerwartet znrückgekehrt und soll sehr ungehalten gewesen sein, mich nicht zu finden. Aber etwas Zerstreuung muß ich doch auch mir gönnen; das Leben ist ja, genau betrachtet, ohnehin so traurig, und wenn man auch keine materiellen Sorgen hat, es lastet doch immer genug auf uns. Ich werde Moritz mit großen Anforderungen be­lästigen müssen, denn Heilburg, sein Bankier, erklärte, keine Ordre zur Zahlung mehr zu haben, ich wußte nicht, wohin ihm schreiben, und so ist neben vielem Anderem auch die Miethe dießmal noch unberichtigt geblieben, was mir so peinlich ist."

Mit trägen, noch von entbehrten: Nachtschlummer abgespannten Sinnen erwartete sie die Jungfer, um ihre Toilette zu machen.

Spute Dich, ich habe einige Kommissionen in der Stadt!" ries sie der Eintretenden Zu, die sich sofort an's Werk begab.

Herr Goldmann läßt sagen, er erwarte die gnädige Frau im kleinen Frühstückszimmer," meldete ihr die Jungfer.

Frau Gabriele nahm das schweigend hin. Als die Toilette beendet, schritt sie in halbdunklem Früh­lingspromenadekleid durch die Zimmer. Sie fand den Gatten, der eben seinen Thee genossen. Er saß, die Zeitung in der Hand, am Fenster und schaute mit stumpfem, mechanischem Kopfnicken von den: Blatt zu ihr aus.

Guten Morgen, Gabriele!" sagte er, ohne sich Zu erheben. Diese fühlte sich seltsam berührt durch den ungewohnten Ton seiner Stimme. Beide waren an den Austausch von Herzlichkeiten nie gewöhnt gewesen, aber er war so fremd und kalt nach langer Abwesenheit.Ich bin länger fortgebliebeu als meine Absicht war."

Ja!" Ihr Auge ruhte heimlich fragend auf ihm. Er sah so gesund und kräftig aus, aber sie meinte, er sei nicht so ruhig wie sonst.

So wirst Du mir einige Minuten schenken. Ich werde nämlich leider wieder fort müssen und wohl auf längere Zeit."

Gabriele schwieg. Seine Stimme klang merkbar bewegt, aber seine Miene war die alte, wie sie ihn jetzt fragend anschaute.

Ich hatte große Unannehmlichkeiten im Geschäft," fuhr er fort, sich erhebend und aus eine Etagere stützend.Gestern traf mich unterwegs die Nachricht, daß meine beiden Geschäftsfreunde Tompson und Beda in London, mit denen ich seit zehn Jahren arbeite, salliren und meine Tratten auf sie nicht Honoraren werden. Ich weiß nicht, wie ich dabei gerade stehen soll, und muß nach London, um zu retten was möglich."