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Deutsche Noman-Sibliothek.
schon was ich thäte, aber es muß auch so gehen. Hier!" Er griff in die Tasche und warf Silbergeld vor sich auf den Tisch. „Ich habe eben meine Kleider verkauft bis auf diesen einen Anzug, auch meine Bücher, alle, alle, nur die Zeichnungen habe ich behalten. Es ist ein Lumpengeld, aber es ist wenigstens gegen den Hunger gut. Wäre Lola nicht ein so eitles Geschöpf, sie hätte es auch schon so gemacht wie ich."
Die Mutter richtete sich im Sessel auf; sie trocknete ihre Thränen und streckte die Hand nach ihm aus.
„Egon, Du warst zu schnell; es hätte sich vielleicht die Möglichkeit finden lassen..."
„Welche Möglichkeit?" brauste er vorwurfsvoll aus. „Glaubst Du, daß irgend Einer sich unserer annehmen würde, daß uns Einer auch nur ein Almosen gäbe, wenn wir betteln gingen, wir, die Familie eines Bankerottiers? Meinst Du, der Wirth, der für seine Forderung Beschlag aus die Möbel gelegt, werde uns mehr als das armselige Bett lassen? Glaubst Du, es nehme uns in der letzten Vorstadt ein Anderer auf, wenn wir ihm die Miethe nicht voraus auf den Tisch legen?"
„Egon, Hab'Barmherzigkeit!" flehte die Mutter. „Ich will ja arbeiten für euch arme Kinder, was meine Hände vermögen! Ich danke es meiner seligen, sorgsamen Mutter, daß sie mich so Manches gelehrt hat, und wird unsere Existenz auch nur eine kümmerliche sein, Du, Egon, sollst vor Allem etwas lernen, damit Du. . ."
Egon runzelte die Stirn, er erhob sich heftig, seine Augen hafteten suchend am Boden. Dann plötzlich warf er die Stirn aus, fuhr mit dem Arm durch die Luft und packte dann mit beiden Händen die Brust.
„Mutter," knirschte er mit Zusammengepreßten Zähnen, die Hände auf der Brust ballend, „es war gut, daß wir uns nicht sahen, Du hättest während dieser schrecklichen Tage viel Bitteres von mir hören müssen, aber glaube mir, ich habe auch mich selber nicht geschont! Es ist einmal so und» wird auch bei Anderen nicht anders sein; man sieht in seinen Eltern Diejenigen, die für Alles verantwortlich, sogar für die Thorheiten, die wir selbst begehen! Mein Vater hat mich nie gezwungen, ihm die Achtung, den Respekt zu zeigen, den er hätte einflößen und fordern sollen; Du warst die schwächste Mutter, schwächer, als Du es einem Temperament wie dem weinigen gegenüber hättest sein dürfen, und ich glaube nicht, daß ein Kind, am wenigsten ein Knabe, lieben oder achten kann, ohne zu fürchten. Aber das Alles ist jetzt zu spät! Die Erinnerung an meinen Vater soll in meinem Herzen höchstens noch als ein düsterer Schatten sortbestehen; Du hattest bisher nicht die Verantwortlichkeit für unsere Existenz, ich begehre dieselbe auch jetzt nicht von Dir, denn Du vermöchtest nicht sie zu tragen. Sorge jetzt für Lola, mich aber laß getrost meinen Weg gehen, und Gott gebe, daß er mich nicht zu weit von Dir entferne. Euch Beiden kann es ja nicht allzu schwer werden, euch zu ernähren, wenn Du vermagst, auch in Lola den Ernst und das Pflichtbewußtsein zu Wecken, die das Schicksal jetzt von uns begehrt.
„Fasse Muth!" bat er, an sie herantretend, mit weicher Stimme und ihre Hand nehmend. „Mein Groll hat sich diese Nacht gebrochen, als ich wiederum schlaflos dalag; ich gehe heute, um für uns eine Wohnung zu suchen; kümmere Dich nicht um das, was hier noch Vorgehen wird, und sorge nur für das, was Dein eigen geblieben und was Dich vor der ersten Noth schützen kann. Morgen werde ich Zeit haben, an mich und meine Zukunft zu denken."
Er beugte sich über sie, die regungslos, in traumhaftem Zustande dasaß und nicht zu fassen vermochte, was er zu ihr sprach. Er küßte sie auf die Stirn und ging, und sie schaute ihm nach, bis endlich zum ersten Mal ein warmer Hauch wieder durch ihr Herz ging. Thränen entquollen ihren Augen.
„Egon! War das Egon, der so zu mir sprach!" schluchzte sie, „er, für den ich am meisten fürchtete, vor dessen Anblick ich zitterte! O, wollte ein guter Engel auch Lola dieselben Vorsätze eingeben! Mögen sie dann kommen und nehmen, was uns nicht mehr gehört; vor der dringendsten Noth schützt uns ja einstweilen, was ich als mein eigen noch zu retten berechtigt, und das Uebrige steht dann in Gottes Hand."
Egon, als er die Mutter verließ, schritt mit dem vollen Bewußtsein der Aufgabe, die er in der Aufwallung knabenhaften Wollens und Vermesseus übernommen, den Korridor entlang zu dem hintern Theil der Wohnung, erstieg hier eine kleine, zu seiner und der Schwester Zimmer führende Treppe und trat in das der Letztem.
Er war gewohnt, mit Lola auf dem ungenirtesten Fuß zu verkehren. Beide hatten keine Geheimnisse für einander gehabt in diskreter Verbindung verzogener Kinder gegen die Eltern, und so war es geblieben, als sie Beide die Kinderschuhe ausgezogen und die Aussicht über sie eine noch geringere geworden als ehedem.
Lola sollte bald das siebenzehnte Jahr vollenden. Beider Anschauungen und Wünsche waren zwar reifer geworden, aber nicht nach der Verstandesseite hin. Egon, bis vor einem Jahre noch der beste, fleißigste Schüler und folgsamste Sohn, war in seine Flegeljahre getreten, erst dieser Schlag hatte ihn wieder zum Bewußtsein gebracht; nicht so die Schwester, die störrisch dem Schicksal die Stirn bieten Zu können meinte.
Sie hatte eben ihr Haar gemacht, der Peignoir hing lose auf ihrer Schulter. Der Spiegel gab ihr das Bild eines im Wachsthum vielleicht seinem Alter vorausgeeilten, graziös gebauten Geschöpfs zurück, das eben zur Jungfrau geworden, dessen Verstand aber noch in der Eierschale der Kindheit geblieben.
Egon schaute mit zürnender Miene auf ihre Beschäftigung. Heute zum ersten Mal vielleicht musterte er die Schwester mit prüfendem Auge. Er sah, wie viel Zeit und Sorgfalt sie dem Ordnen des noch zwischen Dunkelblond und Lichtbraun spielenden Haars gewidmet; die Frische ihres Gesichts, die Klarheit ihrer braunen Augen, die ihm nur im Spiegel eine flüchtige Aufmerksamkeit schenkten, die Seelenruhe, die um das hübsche Näschen, um die rothen, etwas vollen Lippen schwebte, ihr ganzes Dasitzen, die Unordnung im Zimmer, die auf die Gewohnheit deutete,