Die tolle Setty von Hans Wachenhusen.
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„Es sollte Ihnen kein Geheimniß sein, Herr von Walbeck!" Sie zog ein weißes Papier aus der Brust und warf es ihm vor die Füße. „Ich spreche, wie es einer Person von obskurer, ja fraglich achtbarer Herkunft zusteht, der Sie Ihre Hand zu reichen die Gnade hatten! Vermuthlich lag dieser Brief da in Paris aus Ihrem Tische, damit ich ihn lesen solle!"
Jobst starrte erblassend auf den Boden. Dann mit zweifelndem Lächeln, vielleicht um das aufsteigende Blut zu verbergen, beugte er sich und warf einen Blick in das fest zusammengelegte Papier. Seine Hand sank herab, der Brief entfiel derselben. Es war seine Antwort auf ein Schreiben seines Bruders nach Paris, die er an diesen abgesandt zu haben geglaubt. Wie kam sie in ihre Hände!
„Du bist thöricht, aus dergleichen Gewicht zu legen!" sagte er in höchster Verlegenheit. „Mein Bruder schrieb mir die Gründe, weßhalb er nicht mit der Mutter zur Trauung erschienen. Beide besitzen leider einen unbeugsamen Familienstolz; nur um einen vollständigen Bruch zwischen ihnen und uns Beiden zu verhüten, schrieb ich dieß; ich bereute es, meinem Bruder diese meiner selbst unwürdige Konzession gemacht zu haben, schrieb einen andern Brief, seine Vorwürfe entschieden znrückweisend, und glaubte, diesen zerrissen zu haben..."
„Das heißt: um sich und diese familienstolze Mutter aus ihren Schulden Zu retten, nahmen Sie ein Mädchen, über dessen Herkunft, wie Sie antworteten, allerdings ein unangenehmes Dunkel liege, dessen Pflegemutter, die Ihnen doch so wohl wollte, eine allerdings wenig gebildete Person. Aber der Adoptivpapa werde die Schulden zahlen, Sie würden ihm nach der Hochzeitsreise Alles bekennen und die Mama werde schon dafür sorgen! Hat man Ihnen, habe ich Ihnen, Herr von Walbeck, ein Hehl daraus gemacht, mit welcher Energie diese Frau meine Abneigung gegen Sie und meines Pflegevaters Widerspruch zu bekämpfen wußte? Sie drängten sich einem Mädchen auf, das Sie nicht lieben konnte und wollte, dessen Geburt Sie jetzt bemäkeln; Sie hatten nicht einmal den Muth, die Ehre Ihrer Gattin Ihrer Familie gegenüber zu vertheidigen! Nehmen Sie die Versicherung, daß ich dieß nicht begehre; ist aber Ihre Berechnung eine verfehlte gewesen, so tragen Sie selber die Schuld!"
Mit einem Blick der Verachtung wollte sie ihm den Rücken wenden. Jobst vertrat ihr den Weg.
„Bettina!" ries er, sich vor ihr aus das Knie niederlassend und stürmisch ihre Hand ergreifend. „Wäre es einem Menschenauge gestattet, in das Herz eines Andern zu blicken, Du würdest die Ueber- zeugung gewinnen, daß ich Dich wahrhaft und innig liebe, daß ich jede Stunde, jede Minute, Tag und Nacht Qualen.der Folter erdulde durch das Bewußtsein , Dir keinen herzlichen Blick abgewinnen zu können! Du kennst ja nicht die Verhältnisse , die mich zwangen, einen Bruch mit meiner Familie zu verhüten! Ich schwöre Dir mit tausend Eiden, daß, was ich meinem Bruder auf seinen jähzornigen, unversöhnlichen Brief schrieb, meinem Herzen fremd war; ich wollte ihn und die Mutter täuschen, ihnen
andeutend, ich habe mich ihnen zum Opfer gebracht. Aber ich war nicht im Stande, diese Lüge abzusenden; ich schrieb das Gegentheil, die Wahrheit, Bettina, beim ewigen Gott, die Wahrheit, denn ich liebe Dich von ganzem, reinem Herzen! Du sollst Alles hören, nur verzeih' diese eine Schwäche, ich stehe Dich auf meinen Knieen an und verspreche Dir ihnen gegenüber jede Genugthunng, die Du begehrst, und wär's ein vollständiger Bruch mit der Mutter!"
Er preßte die Hand, die sich ihm entreißen wollte, an die Lippen mit einer Inbrunst, in der sie die Wahrheit hätte erkennen müssen, wenn sie dieselbe begehrt hätte. Er ergriff mit beiden Händen ihren Arm, um sich an demselben emporzuringen, und nannte sie bei den theuersten Namen.
Bettina hörte ihn an, ohne daß auch nur eins dieser Worte zu ihrem Herzen drang.
„Ich bitte um den Brief, Herr von Walbeck!" antwortete sie mit Ruhe und Würde.
Walbeck, in vollständiger Zerknirschung, hob ihn vom Boden und reichte ihn ihr in knieender Stellung.
„Ich danke Ihnen!" Sie barg das Papier am Busen. „Wenn es Ihnen morgen genehm ist, reisen wir mit Tagesanbruch nach Wien! Ich will aus dem Heimwege eine Freundin dort begrüßen."
Walbeck hatte sich erhoben; er wagte nicht, ihr in's Auge zu schauen. Mit herabhängend gefalteten Händen stand er da, rathlos, zerknirscht; er hörte nur ihr Gewand über den Boden rauschen, dann das Geräusch des Schlüssels in der Thür. Er war allein.
Das Alpenglühen warf eben seinen letzten Feuerschein in das Zimmer. Die Nacht begann zu sinken; graue, weiß gesäumte Wölkchen umkränzten die Gipfel der Bergriesen; lautlose Stille herrschte unten im Garten, nur unterbrochen durch fernes, aus dem Gebirgsthal heraufdringendes Hundegebell.
Jobst stand noch da, zerschmettert durch Bettina's Worte und eigenen Vorwurf. Jenen ersten Brief hatte er in einem Moment geschrieben, in welchem seines schönen Weibes Kälte gegen ihn sein Gemüth verbittert; was ging es seinen Bruder an, ob seine Neigung bei dieser Verbindung im Spiel gewesen; die besonderen Familienumstände hatten ihn veranlaßt, sich seinem Bruder wie ein Opfer derselben hinzustellen, ohne daß ihm sein Herz jene Ausdrücke diktirt. Er liebte sein Weib, er glaubte Bettina's Gegenliebe zu erringen durch unermüdliche Hingebung, und hatte sich bisher zu beherrschen gewußt, wenn seine Geduld sich an ihrer Unnahbarkeit brach.
Und jetzt hatte diese einzige Unachtsamkeit und Zerstreutheit Alles zu Schanden gemacht! Er durste ihr nicht einmal Unrecht geben. Seine Aeußerungen gegen den Bruder klangen frivol, herzlos; sie waren nur für einen älteren Bruder wie den seinigen geschrieben.
Die Fledermäuse huschten an dem offenen Fenster vorüber, an dem er zusammengesunken dastand; der Mond warf den Schatten seiner Gestalt über die weißen Zimmerdielen; nur gedämpft drang von unten aus dem Hotel zuweilen ein Laut noch herauf.
Er schaute lauschend zu Bettina's Thür hinüber. Nichts regte sich drüben. Sein Stolz versagte ihm,