Heft 
(1885) 47
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Viele des Lebens von W. Serger.

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daß ihre Blutsverwandten in Feindschaft gegen sie standen. Als sie mich, ihr erstes Kind, geboren hatte, ist sie nicht wieder vom Lager ausgestanden."

Arthur pausirte wieder.Schöne Dinge sind in meiner Familie passirt," sagte er ingrimmig.Und das höre ich jetzt erst! Arme Meta! Vielleicht hätte ich helfen, vielleicht hätte ich das Schlimmste ab­wenden können! Was hätte mein Vater nicht für mich gethan, wenn ich ihm nur einen einzigen Schritt entgegenkam!"

Der Brief lautete weiter:Doch nicht von der Geschichte meiner Mutter wollte ich Sie unterhalten. Ich wende mich an Sie in einer Angelegenheit, die mehr Sie angeht als mich. Ohne weitere Umschweife: in dieser letzten Leidensstation für Schwindsüchtige weile ich als Pflegerin eines Schwerkranken, eines alten Mannes, in dem nur noch ein kleiner Rest von Leben ist. Wer dieß ist, werden Sie errathen. Vor etwa vier Jahren berief er mich zu sich; mich, die Unerfahrene, Schwächliche, an Jahren fast noch Kind, wünschte er zur Gesellschafterin. Wieder gut zu machen gedachte er an mir, was einstmals seine harte Schwester an meiner Mutter verbrochen hatte. Denn nichts konnte ich ihm sein, als ich zu ihm kam; er aber versuchte beharrlich, mir Alles zu werden, Vater und Freund, und ließ nicht ab, bis er mein sprödes Herz gewann. Später, als er kränker wurde, als er seines Lebens Ziel rasch näher rücken sah, gestattete mir der sonst gegen Jeden ver­schlossene Mann einen Einblick in sein Inneres. Wund und weh war es darin. Daß er werde sterben müssen, ohne von seinem Sohne den Kuß der Ver­söhnung empfangen zu haben das war das fressende Leid in ihm, das ist der brennende Schmerz, der ihn auch hier, in diesem irdischen Paradiese, während das Leben unmerklich von ihm weicht, nicht verläßt."

Ein eigenthümliches Gefühl kam über Arthur, als er bis hieher gelesen hatte; es wurde ihm trocken im Halse und in den Augenhöhlen stach's ihn. Fast erschrocken vor den Thränen, deren Emporringen er spürte, sprang er ans, that ein paar Schritte zum Fenster, umklammerte mit beiden Händen den blanken Messinggriff, als ob er ihn zerquetschen wollte, und starrte hinaus auf die belebte Straße. Er sah nichts; er mußte die Augenlider einige Male ab- und auf­wärts bewegen, eh' es wieder hell und klar vor seinen Augen wurde. Unwillkürlich schaute er sich um, ob er auch allein sei; dann nahm er sich zu­sammen, griff Klara Holder's Brief auf und las ihn rasch zu Ende.

Ihr Vater weiß nicht," hieß es weiter,daß ich an Sie schreibe; er würde es mir verboten haben, wenn ich ihn darum gefragt hätte. Abweisung auf Abweisung, eine herber als die andere, h«be er be­reits empfangen, würde er mir sagen und er selbst, er könne sich nicht vor seinem Sohne demüthigen. Ich aber habe bemerkt, daß in den letzten Wochen seine Sehnsucht nach Ihnen täglich gewachsen ist; seit einigen Tagen ist eine Unruhe in ihm, die ihn selbst im Schlafe nicht verläßt. Er sagt nicht, was ihm fehlt, nicht einmal mir; aber er redet häufig von Ihnen; er erzählt mir kleine Erlebnisse aus

Ihrer Knabenzeit und blickt dabei nach Westen mit einem abwesenden Ausdruck in den matten Augen. Ich kann die Seelenqual des Armen nicht länger ansehen, ohne einen Versuch zu ihrer Tilgung zu machen. Der Arzt, den ich heute ausforschte, gibt dem Kranken höchstens noch fünf Wochen; da war denn Eile geboten und ich überwand alle Bedenken.

Kommen Sie herüber, Vetter Arthur, so schnell wie das schnellste Schiff Sie tragen kann! Es wird Ihnen auch Ihre Todesstunde leicht machen, wenn Sie Ihrem Vater den Frieden bringen, ehe er von der Welt scheiden muß. Ich kenne Sie nicht; es mag Vermessenheit sein, daß ich mit Bitte und Er­mahnung auf Sie eindringe; aber Sie sind ein Mensch, und Barmherzigkeit zu üben kann Ihnen nicht unmöglich sein. Was Ihnen auch vor langen Jahren von Ihrem Vater widerfahren sein mag: sähen Sie ihn jetzt nur, die zusammengesunkene Ge­stalt, die halb erloschenen Augen, die wachsfarbenen, zitternden Hände o, wie rasch würde all' Ihr alter Groll schwinden! Ich kann nicht glauben, daß Sie so hart sind, wie man sagt. Verschrieen ist das Land, worin Sie wohnen, als ein Tummelplatz der Selbstsucht. Mir will's nicht in den Sinn, daß ein Volk groß und glücklich sein kann, ohne einen Fonds der edelsten Tugenden Zu besitzen. Auch dort wie überall knüpft Gott die Herzen der Menschen durch himmlische Bande aneinander. Wie ein Staat be­stehen könnte ohne Liebe ich kann mir's nicht denken.

Sie werden kommen, unverzüglich kommen, ich weiß es. O, dürste ich doch diese Kunde dem ver­fallenen Manne zuflüstern, der auf dem Lager nebenan schlummert, durch kaum hörbare Athemzüge das ebbende Leben erhaltend! Dürfte ich sie ihm doch zuflüstern, daß er sie zuerst genöße in der Gestalt eines beseligenden Traumes, bis ich sie dem zweifelnd Erwachenden zuriefe mit jubelnder Stimme! Am Meeresstrande würden wir dann verweilen, täglich, so lange die Sonne am Himmel stände, und uns einbilden, wir sähen das Schiff näher und näher kommen, das uns den Verlorenen zurückbringt. Friede, stiller, heiliger Friede würde in dem Greise ein­kehren, und mit sanftem Lächeln würde er die Er­pressen grüßen, die ihn vom Hügel zu sich winken. Ich aber dürfte sagen: Siehe, Vater, er hat doch ein Herz, und ich habe daran geglaubt.

Ihre Cousine Klara Holder."

Lange ging Arthur im Zimmer auf und nieder und trug den Brief mit sich umher. Man klopfte, man rief nach ihm; unwillig verbat er sich jede Störung. Er mußte allein sein; der in ihm so plötzlich erregte Sturm mußte anstoben. Wieder und wieder blickte er in den Brief Klara Holder's. Und aus den Schriftzügen wuchs immer deutlicher das Bild des sterbenden Vaters hervor, wie es Klara mit wenigen schrecklichen Worten entworfen hatte, bis er die tiefliegenden Augen traurig sehn­suchtsvoll auf sich gerichtet sah.

Ich komme, so wahr mir Gott helfe!" rief er aus, und eine gewaltige Erschütterung ging durch seinen Körper.

In fliegender Hast warf er ein Telegramm nach