Heft 
(1885) 47
Seite
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Deutsche Noman-Sibtiothek.

sich hin:Ich will ein Gebet an ihrem Sarge sprechen; auch sie wird verzeihen, was ich gcthan!" . . .

Wie er ihr jetzt nachschaute, war's ihm, als ver­sinke der Schmerz von seinen: Herzen. Das Allein­sein, der Gedanke: dort drüben liegt die sterbliche Hülle Derjenigen, der du so viel Unrecht zugefügt, weil es ihr nicht gegeben war, dich zu verstehen, und dein letzter Zank mit ihr war die Ursache ihres Hin­ganges, die düsteren, unheimlichen Schatten des Selbst- vorwnrfs, die ihn umschwebten, hatten ihm Furcht vor sich selbst eingeflößt. Er hätte nicht gewußt, wohin, wenn sie hinausgetragen wurde, denn die Einsamkeit hätte er nicht ertragen. Jetzt aber schickte Gott sie ihm wieder, und das richtete ihn ans. Er hätte ihr Alles verziehen, selbst wenn sie schuldig gewesen wäre!

Er schritt ihr nach, sah sie in heißer Inbrunst vor dem offenen Sarge knieen, faltete die Hände und betete mit ihr für das Seelenheil der Geschiedenen.

Zwcinttdzwanzigstes Kapitel.

Daß Bettina ihrem Gatten voraugeeilt, um die Pflegemutter noch zu sehen, fand man natürlich, nicht so, daß Walbeck am nächsten Tage bei der Bestattung fehlte.

Er hatte, auf einer andern Route nach ihr ein- gctroffen, sich sofort zu Oppenstein begeben, war aber nicht angenommen worden; er hatte ihn schrift­lich um Gehör gebeten und keine Antwort erhalten.

Bettina beherrschte den nur durch sie zu trösten­den Mann; sie saß bei ihm und hörte ihn mit un­erschöpflicher Geduld au, der immer neue Verdienste und Tugenden an der Dahingeschiedenen fand, die er hatte verkennen müssen, weil er nie sie zu ver­stehen sich bemüht.

Die Selige stand jetzt vor seinen Augen wie eine Märtyrerin, die zu lohnen alle die Messen nicht ge­nügen konnten, die für sie gelesen werden mußten. Nur wenn er Bettina aublickte, war's ihm, als lese er Vergebung aus dieses Kindes Augen, von denen er meinte, sie schauten, wie einst die Verstorbene in ihrer Jugend geschaut.

Und Bettina ging auf Alles ein; nur das Eine bemerkte er nicht: daß sie, anstatt ihn aufzurichten, seinem Schmerz nur frische Nahrung gab, daß sie ihn abschloß wie einen Kranken und Gefangenen, die Maßnahmen des Hausarztes mißbilligte, den Ver­ordnungen desselben entgegen handelte und nach wenigen Tagen schon daraus drang, er müsse die Wohnung verlassen, in der ihn Alles an seinen Verlust ge­mahne, er müsse draußen Zerstreuung und Vergessen­heit suchen; auch ihr sei der Gedanke unerträglich, in der Nähe des ihr verhaßten Mannes zu seiu.

Ich will darüber denken," sagte er eiustimmend. Es wird mir allerdings wohlthuend sein. Aber laß mir die Zeit, ihre und meine Papiere Zn ordnen. Ich müßte wieder einmal auf die Güter reisen, aber sie sind ja unter guter Verwaltung; was mir ferner unerläßlich, ist die Aeuderung meines letzten Willens. Dieser Todesfall hat Alles anders gemacht; mein übriges Privatvermögen würde nach dem Wortlaut Deiner Adoption mit an die andere Linie fallen.

denn Leouore begehrte für sich nur ihren Landsitz am Rhein; aber es soll Dir erhalten bleiben. Ich will morgen mit dem Notar sprechen, und wenn das geordnet, wollen wir fort; ich könnte ja keine zärt­lichere Sorgerin und Pflegerin haben als Dich: aber Du sollst Dich reich dafür belohnt finden... Auch Deine Scheidung soll der Advokat gleich beantragen! Unüberwindliche Abneigung, das genügt vor dem Gesetz. Jener Brief, den ich sorgfältig ausgehoben, wird uns rechtfertigen."

Bettina nahm das schweigend hin. Nur die Wände ihres Zimmers sahen die Unruhe, die sie Oppeustein verheimlichte. Die Außenwelt existirte nicht für sie. Walbeck mochte draußen erzählen, was er wollte; sie gedachte seiner kaum noch. Aber der Einen grollte sie, der dank- und treulosen Freundin, die sie in Wien ihm verrathen haben mußte.

Balsado's Bild stand auf ihrem Toilettentisch, aubetend kniete sie vor diesem, bedeckte es mit Küssen und ihre Gedanken folgten ihm heiß und verlangend auf seinem Siegeszuge; oft aber auch mit Fieber-- angst. Diese junge russische Fürstin, von der ihr auch Frau von Ertel erzählt, liebte ihn, wie es schien, mit gleicher Inbrunst; sie, die Gefürchtete, war frei, Herrin ihres Willens und ihres Neichthums, mit dem sie Camill überschüttete und blendete; sie war ihm vielleicht gefolgt, auch nach Pest, während sie selbst wieder heim gemußt, um ...

Sie erwartete nur ein Schreiben von ihm; aber das kam nicht. Sie durchflog die deutschen und französischen Zeitungen Oppenstein's und da las sie end­lich, Balsado habe die schmeichelhaftesten Einladungen nach Petersburg erhalten, sein Impresario sei noch unschlüssig, ob er diese jetzt schon acceptireu solle.

Nach Petersburg! Herz und Gehirn geriethen in Empörung. Und Camill schrieb nicht, wie er versprochen bei dem Rendezvous an: frühen Morgen des letzten Tages in Wien, das sie ihm so freudig gewährt. Sie hatte ihm auch da noch ein Geheimniß aus ihrer Ehe gemacht. Wozu sollte er erfahren, was ja doch nur eine kurze, vorübergehende Episode ihres Lebens hatte sein sollen. Auch der Brief, den sie jetzt erwartete, sollte unter der ihm angegebenen geheimen Adresse eintreffen. Aber keine Nachricht kam von ihm und so verstrichen ihr denn die Tage voll Unruhe, unerträgliche Nächte der Folter.

*

Die unglückliche Goldmann'sche Familie hatte in­zwischen eine kümmerliche Dachwohnung bezogen. Mutter und Sohn waren jetzt allein; aber es schien, als sei der Fluch des Mannes mit ihnen ge­zogen.

Mutter, ich will lieber betteln von Haus zu Haus, als länger unter diesen Menschen in der Fabrik sein!" Mit diesem Ausruf der Verzweiflung war Egon Abends nach Hause gekommen.Niemand spricht seit Wochen mit mir, Niemand würdigt mich mehr einer Antwort, wenn ich frage. Ein Aus­sätziger könnte nicht schnöder behandelt werden. Herr Neichmann ist auf Monate verreist, und seitdem haben sich Alle verschworen, mich hiuauszudrängen. Hier ist mein Wochenlohn der letzte, denn ich gehe