Die tolle Betty von Hans Wachenhusen.
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nicht mehr in die Fabrik und sollt' ich Hungers sterben!"
Der Mutter beschwichtigende Worte verschmähend, schritt er in sein Kämmerchen. Ter Sommerabend neigte sich eben zu Ende; die letzten Strahlen trafen, fast wagrecht über die Dachfirsten fallend, die niederen Fenster.
„Gott bewahre ihn, daß seine guten Vorsätze nicht so schnell wieder erschüttert werden!" seufzte die Mutter ihm nach. „Er ist nicht stark, er ist noch Zu jung; er kennt die Welt noch nicht!" Mit schwerbedrücktem Herzen trat sie hinaus, um das karge Abendmahl zu bereiten.
Draußen trat ihr eine verschleierte weibliche Gestalt entgegen; eine Stimme, die in ihrem Herzen wiederhallte, machte sie wanken ... Lola umklammerte sie, ihr Antlitz an der Mutter Brust bergend und laut schluchzend.
„Zürne mir nicht, Mama, gute, theure Mama!" bat sie mit halb erstickter Stimme. „Ich habe mich gegen Dich versündigt und will es wieder gut machen!"
Sprachlos umfing die Mutter das verirrte Kind. Sie hatte keinen Laut des Vorwurfs; aber plötzlich znsammenschreckend bei dem Gedanken an Egon, Zog sie Lola in das Zimmer.
„Nahe Dich hier aus! Du bist erhitzt," sprach sie leise, und sie dann ängstlich betrachtend, wie sie mit im Schooß gefalteten Händen dasaß, in ihren Zügen suchend, was geschehen sein könne, sank auch sie mit versagenden Knieen auf einen Stuhl. „Mein Gott, mein Gott!" flüsterte sie vor sich hin, zitternd vor dem, was sie hören werde, lauschend zugleich, ob Egon sie gehört. „Du wolltest sprechen, Lola!" sagte sie endlich, als diese keine Worte fand. „Wir wissen Alles! Egon ruhte nicht, bis er es erfahren. Ich habe Dir vergeben, aber er..."
Lola hob den Blick.
„Ich habe mir nichts vorzuwerfen als diesen einen unbedachten Schritt, Mutter; Gott ist mein Zeuge! Du weißt, ich hatte immer große Freude am Theater, und als es uns so furchtbar erging, stand mein Entschluß fest. Andere bestärkten mich darin... Ich wußte leider nicht, was ich that, als ich in meiner Verzweiflung zu dem Agenten ging. Ich stellte mir das Alles so anders vor und ich zittere vor dem Gedanken, wie es mir hätte ergehen können, wenn nicht... Kummer und Reue warfen mich auf der Heimreise auf das Krankenlager . . ."
Ein Geräusch in der Thür ihr gegenüber unterbrach sie. Egon war leichenblaß in derselben erschienen.
„Was sucht dieses ehrlose Geschöpf hier?" rief er, in seiner Verbitterung die Schwester mit zornsprühenden Augen durchbohrend. „Bis hieher hat uns die Schande getrieben, hier aber will ich mit Ehren wohnen! Du hast die Wahl, Mutter, zwischen ihr und mir! Keine Sekunde will ich mit ihr unter einem Dache sein!... Die Entscheidung fällt Dir schwer?" Sein Auge haftete schonungslos fordernd auf der Mutter, die beschwörend ihre Hände faltete. „Wohlan denn, so gebührt sie mir einem Geschöpf gegenüber, das sich so weit vergessen konnte, mit der elendesten Komödiantentruvpe zu vagabundiren, das
es darnach noch wagen konnte, als Landstreichern: wieder bei den Genügen zu erscheinen!"
Egon, heftig in sich durch erlittene Beschimpfung, unversöhnlich gegen Lola, seit er voll einem Schulkameraden sich hatte sagen lassen müssen, seine Schwester sei davon und unter eine wandernde Truppe gelaufen — Egon war vorgetreten; sich an seinen eigenen Worten erhitzend, hob er die Hand.
„Egon, Du lügst!" Lola hatte sich erhoben. „Der Mutter gegenüber bin ich bereit, mich zu recht- fertigen, und ich that es bereits!" Mit zorn
flammenden Augen und von Schmerz zuckenden Lippen stand sie ihm gegenüber.
„Ich beschwöre Dich, Egon, sei nicht ungerecht gegen sie! Verzeih' ihr, was sie in Uebereilung ge- than, als wir Alle verzweifelten!" Flehend, unter Thränen legte die Mutter die Hand auf Egon's Schulter.
„In Uebereilung!" höhnte dieser, noch mehr erhitzt durch der Mutter Parteinahme. „Hat sie in Uebereilung, Gott weiß von wem, die großen Banknoten angenommen, die ich vor ihren Augen verbrannt, ohne Dir, die Du schon Kummer genug hattest, davon Zu sagen? Hat sie das Geld etwa für ihre Tugend erhalte;: ? In einer der gemeinsten Theaterschmieren hat sie gesteckt, wo sie sicher keinen Heller Gage bekommen, nnd da sieh' hin, das neue Kleid, in dem sie znrückkehrt!... Ich wette, sie hat auch jetzt wieder Geld, und ich weiß nicht, warum sie wagt, sich bei uns noch zu zeigen!"
Er riß Lola das kleine Ledertäschchen vom Arm, öffnete es gewaltsam und schüttete den Inhalt auf den Boden, daß das Portemonnaie in demselben aufsprang und ein Dutzend Goldstücke über die Dielen rollte.
„Da sieh'! Das hat sie noch übrig, nachdem sie die weite Reise bezahlt und unterwegs noch krank gelegen, wie sie uns glauben macht!" spottete Egon mit glutrothem Gesicht, das Täschchen mit dem Fuß in die Ecke stoßend. „Und jetzt nimm Du sie noch in Schutz!... Hinaus mit Dir und wage es nicht, diese Schwelle wieder zu betreten! Unserem Namen — Gott verzeih' mir! — vermagst Du leider keine Schande mehr hinzuzufügen!"
Und sie mit beiden Händen an: Arm ergreifend, schleppte er Lola mit überlegener Gewalt zur Thur und stieß sie hinaus.
„Du hast zu wählen zwischen ihr und mir, Mutter!" rief er, sich im Bewußtsein des Rechts in die Ecke niederlassend nnd die Stirn in die Hand lehnend. „Und das Sündengeld da," — er sprang ans und sammelte die Münzen — „es brennt mir wie Feuer in der Hand! Sie mag es mitnehmen, da sie sich's verdient hat!"...
Zur Thür eilend, öffnete er diese, schleuderte das Geld auf den Gang nnd kehrte zurück, der Mutter den Weg vertretend, die mit erhobenen Armen ihr Kind zurückholen wollte.
„Noch einmal: sie oder ich!" rief er, vor die Mutter tretend, hart und bebend vor Aufregung. „Ich schwöre Dir, ich werde wahnsinnig, wenn ich der Schande noch mehr erleben und mit ansehen soll! Mit diesen Händen verbrannte ich kurze Zeit