Die tolle Betty von Hans Wachenhusen.
1123
in denen er so spät noch gelesen. Mit gefalteten, herabhängenden Händen stand sie da, rathlos, willenlos. Nur ein Gedanke stieg in ihr auf: wenn auch dieser Mann da starb, war sie frei...
Wohl überfiel sie ein Frösteln bei dieser Vorstellung, aber warum hing er noch am Leben! Um ihretwillen? Sie begehrte es nicht; zwischen ihr und ihm war ja kein Band als das eine, das er um ihren Nacken gelegt; all'sein Wohlwollen hatte, weil es ihr nicht gab, was sie begehrte, niemals eine dankbare Stätte in ihr gesunden.
Aber der Anblick des unglücklichen Mannes und all' das, was eben aus sie einstürmte, verwirrte ihre Sinne. Wie gelähmt sank sie in der Ecke auf einen Sessel.
Der Diener schaute vergebens auf sie und wandte respektvoll das Auge wieder von ihrer Nachttoilette ab.
So verging eine Viertelstunde, bis der Arzt erschien. Als sie seine Schritte draußen vernahm, eilte sie fort, warf ihr Peignoir über die Schulter und kehrte zurück.
Der Arzt schien sehr besorgt; irgend eine Aufregung mußte eine Gehirnaffektion herbeigeführt haben. Sie beantwortete des Arztes fragenden Blick zerstreut mit einem Achselzucken und blickte dann neugierig auf die Papiere.
„Die Arznei ist schon halb geleert?" fragte der Arzt erschreckt, nachdem er die ersten Dispositionen getroffen, die Flasche in die Hand nehmend. „Sie sollte bis morgen Abend reichen!"
„Er verlangte es!"
„Sie durften das nicht zugeben! Es ist Gift darin, das ihn hätte tödten können so im Uebermaß genossen! Es kann noch jetzt die schlimmsten Folgen haben!"
Bettina, düster vor sich hinschanend, gab keine Antwort, der Arzt sandte fort, um einen barmherzigen Bruder zur Pflege des Kranken zu beordern. Er blieb, bis dieser kam, um am Bette Platz Zu nehmen, und verließ Bettina mit unfreundlichem Gruß. Diese raffte, als er hinaus, die ans dem Tische liegenden Briefe in die daneben stehende Kassette und eilte mit derselben in ihr Zimmer.
Und diese Briefe eben waren Oppenstein ver- hängnißvoll geworden. Der Veränderung in seinen Augen, seinen Gesichtszügen, seines Herzklopfens, seiner zitternden Hände und des dürren, lechzenden Gaumens nicht achtend, hatte ihn Bettina am Abend verlassen, obgleich er sie bat, noch Zu bleiben; er werde kein Auge schließen können. Fieberhaft aufgeregt, als er allein in seinem Schlafzimmer, war's ihm eingefallen, er wolle ja noch die Papiere der Dahingegangenen ordnen, die sie bei Lebzeiten so sorgfältig in ihrer Kassette verschlossen gehalten. Er hatte den Schlüssel dazu in einem Medaillon gesunden, das sie Tag und Nacht am Halse getragen.
In ruhigerer Stimmung würde er es nicht gewagt haben, sich einsam in nächtlicher Zeit gerade damit zu beschäftigen, aus Furcht, es könne in diesen Papieren — obgleich ihre Seele ihm immer wie ein aufgeschlagenes, inhaltloses Buch erschienen — irgend etwas auf ihre Jugendzeit Bezügliches sein, das sie ihm vorenthalten, und sie könne um Mitternacht ihre
Geisterhand über seine Schulter strecken und das Papier vor seinen Augen am Lichte verbrennen. Sein exaltirter Zustand trieb ihn aber gerade hiezu.
In der Kassette fiel ihm zunächst ein Vrief- couvert in die Hand, ans dem er seine Adresse: „An Guido", las. Leonore schrieb:
„Ob es Pflicht eines Weibes ist, dem Gatten auch das zu sagen, was geschehen, ehe sie sich ihm gelobte, darüber bin ich mit meinem Gewissen nicht fertig geworden; aber für den Fall, daß ich vor Dir sterbe, will ich doch sozusagen nicht im Domino aus der Welt gehen.
„Du wirst dieß wieder eines meiner banalen Gleichnisse nennen, aber wenn Du dieses liest, bin ich schon im Sterncukleide und Du wirst nicht zürnen, wirst verzeihen, denn ich war Dir, was ich Dir sein konnte, mit gutem Willen und gutem Herzen. Du verlangtest freilich mehr; Du suchtest ein Ideal und fandest nur ein Alltagsweib,-das die Noth ans den Dornenpfad der Kunst getrieben. Du mußtest viel Nachsicht mit mir haben; aber gestehe Dir selbst: bedurftest nicht auch Du derselben mit allen Deinen Launen? Warst Du Mann oder Gott genug, uni ein Weib beherrschen, verbessern zu können?"
Oppenstein machte ein Gesicht; ihm erschien diese Frage verletzend; aber sie war ja schon im Sternen- kleide. Er vergab ihr.
„Oft," las er weiter, „ja fast täglich tadeltest Du an mir den Mangel an Erziehung; ich war doch nicht schuld an derselben, Du warst es nicht an der Deinigen, die Dich zu dem Uebersinnlichen leitete. Dich Engel suchen ließ unter fehlerhaften, irrenden Menschen. Es gibt keine solche unter uns Frauen, und die es zu sein glauben, die sind es am wenigsten.
„Als Du mich für einen solchen verloren glaubtest, wolltest Du Bettina dazu machen. Du weißt, wie ich dagegen gekämpft. Gott walte, daß sie eben nur ein gutes Weib werde, wenn ich nicht mehr bin, denn ich fühle, daß das schleichende Nebel in mir, von dem ich Dir nie geklagt, mich eines Tages plötzlich fortnehmen wird, und deßhalb drang ich darauf, Bettina in den Händen eines guten Mannes Zu wissen, der Walbeck ist.
„Ich schreibe dieses am Tage nach Bettina's Vermählung. In meiner Seele ist seit derselben eine himmlische Ruhe; ich will die Stimmung, in der ich dem Schicksal für Alles danke, was es mir gethan, auch für das Schlimme, benützen, um Dir die ersten Seiten in dem Buche meines Lebens auszuschlagen, die Du nicht kennst, nach denen Du nie gefragt — Du warst weise genug, es nicht zu thun, oder Du thatest es vielmehr nicht, weil Dü meintest, es könnten nur Menschen von Charakter und Leidenschaft Erlebnisse haben, die Anderen seien nur willen- und schuldlose Marionetten des Schicksals. Ich bin eine solche.
„Lies und zürne mir nicht, denn ich habe nie aus Schwäche oder Absicht gefehlt. Der Mann, der mich, ehe Du mir begegnetest, unglücklich gemacht" — Oppenstein glotzte mit stockendem Athen: aus das Papier — „ist längst verschollen, ich hörte nichts mehr von ihm und sein Name ist mir fast fremd geworden."