1124
Deutsche Roman-Bibliothek.
„Unglücklich gemacht!" Aber er las weiter: „Was Bettina betrifft, erkenne die wunderbaren Wege, auf denen Gott sie Zn uns führte. Ich habe dem Höchsten stets innig dafür gedankt und mit reinem Herzen darf ich vor ihn treten, wenn er mich vor seinen Nichterstuhl ruft..."
Alle diese Zeilen liefen vor Oppenstein's Augen mehrmals durcheinander; sie enthielten ein Bekenntnis das ihm bedenkliche Zuckungen in den Gesichtsund Fingernerven verursachte. Aber Leonore ging so schnell über jene Unglücksphase hinweg... Er legte nervös das Schreiben beiseite und griff zitternd nach den übrigen Papieren.
Das Blut stieg in heftigen Wallungen in ihm aus und ab; heiß und kalt ward's ihm im Gehirn. Leonore hatte einen Roman gehabt, ehe sie... Eine Anwandlung von Groll mischte sich in die frommen Gefühle, mit denen er ihrer gedacht.
Ungeduldig, noch immer zuckend mit den Händen, nahm er ein Papier nach dem andern heraus. Er fand vergilbte Briefe von Jugendfreundinnen und Verwandten, dann las er von bedrückten Familienverhältnissen, von einem pflichtvergessenen Vater, endlich einen Brief ihres Oheims in London, der ihr schrieb, er sei bereit, sie nach dem Ableben ihres Vaters ans einige Jahre zu sich zu nehmen, darnach aber müßte sie sich selber weiter helfen, da auch er nichts übrig habe.
Dam: kamen englische Briese, die er beiseite legte, und endlich in einem wohl seit vielen Jahren verschlossen gebliebenen Couvert wieder deutsche Briese von einer Männerhand, die ihm unklare Erinnerungen weckten.
Mit sich weitenden Augen, einem Brausen in den Ohren las er diese Briefe. In den einen standen heiße Liebesbetheuernngen, in den späteren herrschte ein bitterer, vorwurfsvoller Ton — alle unterzeichnet „Ottokar". Er überflog sie, nur die wichtigsten Stellen erfassend, mit heißen Augen und Athem. Da endlich fiel aus einen: der Couverte ein kleines photographisches Bild, das eines jungen Mannes, welches ihm wiederum eigenthümlich halb düstere Erinnerungen wach ries.
Er vergaß in seiner nervösen Verfassung, was er gelesen; er starrte nur auf die hübschen, aristokratischen Gesichtszüge. Diese Augen, diesen charakteristischen Zug um die leidenschaftlich geflügelte Nase, dieses sich in einer Schnippe über die Stirn senkende krause Haar... Und Ottokar!... Es war sein Bruder, sein längst vergessener, verschollener Bruder! Es war seine Handschrift, dieselbe ihm unvergeßliche Hand, die ihm jenen Brief nach Paris geschrieben!
Von da ab verlor seine Fassungskraft jeglichen Zusammenhang. Mit laut pochendem Herzen und schmerzenden Kopsnerven durchflog er alle Briefe von dieser Hand, mühsam und mit kaltem Schweiß auf der Stirn rechnete er zurück. Der erste dieser Briefe datirte einige Jahre nach jener Zeit, da sich sein Bruder, um Hülse flehend, an ihn gewandt und nicht mehr aufzufinden gewesen. Er war also nach London gegangen, hatte sie später dort kennen gelernt...
Aber die anderen Briefe, die er durcheinander geworfen! Aus einem derselben ging hervor, daß
sein unglücklicher Bruder unter dem Namen Ottokar Seefeld in London als deutscher Sprachlehrer sein Brod gesunden. In einem andern betheuerte er ihr seine Liebe, in einem dritten war von dem bevorstehenden Tage ihrer Verheirathnng die Rede; in einem zwei Jahre später von Southampton datirten endlich, der in der Verbitterung eines vom Schicksal Verfolgten redete, schrieb er ihr seinen Abschied; ergehe als Begleiter eines reichen Amerikaners in die neue Welt; die Summe von fünfhundert Pfund, die er diesem danke, habe er für sie in London deponirt, er habe keinen andern Rath für sie, als den, sich mit ihrer schönen Stimme zu ernähren; sei ihr in dieser Carrisre das Kind hinderlich, so solle sie, da sie ja ohnehin nach Deutschland zurückverlange, die Kleine seinem früheren Ofsiziersbnrschen Karl Mente in Berlin, Schönhänserstraße, übergeben, der sich dort als Schlosser etablirt; sie solle ihm sagen, er werde für das Kind sorgen. Hatte sie also auch von diesem seinen wahren Namen nicht erfahren?
Weiter las er nicht. Die Ueberzengung, daß auch sie ihn getäuscht, der er seit ihrem Hingang so viel Unrecht abgebeten, die er so heiß beweint, verursachte eine Gehirnerschütterung. Er sank zurück, und so fand ihn sein Diener, als derselbe kam, um nach Bettina's Instruktion ihm die Arznei zu reichen.
Fimffmdzwanzigstes Kapitel.
Bettina schloß auch diese Nacht wieder keil: Auge. Selbst wenn die Ermattung sie eingelullt, schreckte sie auf; ihr war's gewesen, als rüttle sie Jemand am Arm, und dann starrte sie ff: die auf dem Kandelaber brennenden Kerzen.
Da, unter demselben, hell beschienen von dem Lichtglauz, lagen die Papiere, die sie mitgenommen. Sie verstand die geisterhafte Mahnung, die sie immer wieder aufgerüttelt. Sie erhob sich und las... las bis das graue Tageslicht durch die Spalten der Jalon- sieen drang und ein schüchternes Pochen sie schreckte.
Sie schob die Papiere hastig zusammen, erhob sich mit bangem Gefühl und schaute zur Thür. Was sie gelesen, hatte sie nur verwirrt, nicht überrascht.
Die Jungfer trat ein. Bettina's weit geöffnete Augen machten das Mädchen bestürzt; es fand nicht gleich die Worte.
„Was ist..."
„Der Herr Baron . . . verlangen nach der gnädigen..."
„Er lebt?"
„Der Arzt war die halbe Nacht bei ihm; erjagte eben beim Fortgehen, der Kranke verlange nach der gnädigen Baronesse..."
„Es ist gut!" Bettina sank wieder zurück. Ihre Hände zitterten in: Schooß. Sie blickte zum Fenster in das Tagesdämmern, das den Lichtkreis wie mit einem grauen Staubkranz umgab. „Er weiß jetzt also, was ich längst geahnt; ich mußt' es ja errathen aus so Manchem in ihren: Wesen gegen mich; aber ich will ihm nicht Zeigen, daß ich weiß..." Sie raffte die Papiere zusammen. Ein Frösteln schüttelte sie; unbekleidet hatte sie stundenlang bei diesen Papieren gesessen.