Die tolle Kelly von Hans Wachenhusen.
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Die toiie
Roman
von
Hans Wachenhusen.
(Fortsetzung.)
Sechsundzwanzigstes Kapitel.
^er Mittag nahte bereits, als Bettina 'zurückkehrte. Der Diener begegnete ihr im Korridor; er trat respektvoll zurück, erwartend, daß sie besorgt nach dem Befinden des Barons fragen werde.
Sie sah ihn nicht, sie fragte auch nicht und suchte sehr erregt ihr Zimmer. Kein Brief von Camill war eingetroffen an der Stätte, wohin er denselben adressiren gesollt, damit er nicht in die Hände der jetzt Verstorbenen gerathe; und sie hatte ihm so Wichtiges mitzutheilen. Aber ein anderer Brief lag da auf der silbernen Platte. Er trug den Poststempel Wien, die Adresse war von ihr bekannter Frauenhand.
Frau von Ertel schrieb. Mit Hast durchflog sie die Zeilen, einen Namen in demselben suchend, und La ,— ihre Hände Zitterten, ihre Augen brannten — da stand er!
Die Freundin schrieb in ihrem gewohnten heiteren Ton über Allerlei; dann hieß es: „Unser göttlicher Camill ist für einige Tage, vielleicht eine Woche von Bukarest und Konstantinopel hieher zurückgekehrt, um von seiner sehr anstrengenden Tournee auszuruhen. Die Bojarinnen sollen ganz außer sich gewesen sein und ihm furchtbar nachgestellt haben; in Konstantinopel sollen die vornehmsten Türkinnen, die Prinzessinnen aus ihren vergitterten Logen ihn mit ihren Augen verschlungen haben. Eunuchen und verschwiegene Botinnen sollen ihm die Einladungen zu den süßesten Rendezvous gebracht haben; einer unserer Spottvögel behauptet sogar, die Favoritin ckn jour des Sultans sei uck seinetwillen in einen Sack gesteckt und in den Bosporus geworfen worden.
„Doch Spaß beiseite, er muß enormes Furore und ebenso enorme Einnahmen gemacht haben; aber man behauptet ja, er, der Aermste, habe wenig davon, da einstweilen Alles in die Tasche seines habsüchtigen Impresario stieße, und was hat er von all' den Blumen und Lorbeerkränzen, die ihm von Zarten Händen gespendet werden.
„Auch die reiche und schöne russische Fürstin, die ihm ja wie ein Schatten folgt, soll ihm wieder nachgereist und hieher zurückgekehrt sein. Man erzählt von ihr Hochromantisches;, sie gehöre zur russischen Kaiserfamilie, reise unter einem Jnkognito- namen und sitze in seinen Konzerten stets verschleiert, höchst einfach gekleidet auf dem bescheidensten Platz, um Niemanden aufzufallen; selbst wenn sie nach denselben ihren Wagen besteige, halte man sie
für ihre Kammerjungfer. Deßhalb sah und kannte sie hier auch noch Niemand, obgleich Jedermann weiß, daß sie ihm unter Anderem einen mit den kostbarsten Brillanten geschmückten Lorbeerkranz gespendet. Sie soll von wunderbarer Schönheit sein, und der gefeierte Camill müßte ein Klotz sein, wenn er sie nicht erhörte. Andere behaupten, sie sei grundhäßlich, aber man weiß, das ist nur der Neid der Damen. Auch heirathen soll sie ihn nicht können, denn ihr Mann soll im Kaukasus stehen; aber wer weiß denn, ob auch das wahr! Es schwebt, wie gesagt, ein tiefes Geheimniß darüber, das uns leider wohl ungelöst bleibt, wenn er seine Reise sortsetzt und sie mit ihm.
„Wann werde ich Dich einmal Wiedersehen, Schatz? Du verschwandest mir so plötzlich..."
Bettina hatte keinen Sinn mehr für den Rest. Ihr Herz that wieder Schläge, als wolle es die Brust sprengen. Sie zerriß den Brief, mit welchem die Freundin ahnungslos ihr die höchste Marter bereitete. Er in Wien, und er schrieb nicht, wie er an jenem Morgen so heilig versprochen!
Und was hielt sie hier zurück, ihn aufzusuchen? Sie war frei, Herrin ihres Willens! Sie war die Erbin des kranken, gebrochenen Mannes, der es heute Morgen versucht hatte, sie zur Sklavin eines der Sterbenden gegebenen Versprechens zu machen, und damit die letzte Pflicht zerschnitten hatte, die sie an ihn fesseln konnte. Und warum starb nicht auch er, der arme, verlassene Mann!
Ein schüchternes Pochen schreckte sie auf, als sie in die ausschweifendsten Pläne versunken dasaß. Die Jungfer erschien wieder verlegen und scheu aus der Schwelle.
Der Arzt, als er vor einer Stunde gegangen, meldete sie, habe sie beauftragt, zu fragen, wer bei dem kranken gnädigen Herrn sein solle. Es müsse der barmherzige Bruder zurückgeholt werden.
„Ich selbst! Ich sagt' es ja!" ries Bettina heftig. „Du weißt, ihn regt diese dunkle Priesterkleidung aus!... Ich komme!... Ich selbst!" wiederholte sie sich tief sinnend, als Jene hinaus. „Es wird nothwendig sein, in seiner Nähe zu bleiben, bis er. .. Aber mein Gott, mein Gott, woher nehme ich die Geduld!" Sie preßte die Hände an die Schläfen. „Jede Minute schleicht mir hin wie eine Ewigkeit! Die Angst frißt mir wie ein Geier am Herzen und der Gedanke, an dem Bette dieses Mannes ausharren zu sollen, seine Pulse zu zählen, wie die Körner einer Sanduhr, die nicht verrinnen wollen..."