Die tolle Setty von Hans Wachenhusen.
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„Leg' Dich zur Ruhe, Kind, und sei nicht besorgt um mich!"
Der Kranke sah mit Zufriedenheit, wie Bettina durch das Zimmer schwebte. Er glaubte auch sie beruhigt, da sie seine Wünsche schweigend hingenommen, und streckte sich auf das Lager zurück. Er sah nicht, wie Bettina im Thürrahmen hinter der Portiere noch verweilte, wie ihre Hand noch krampfhaft sich an den Vorhang klammerte, wie dann dieser plötzlich hinter ihr Zusammenfiel, als sie schnell hinausgetreten.
In ihrem Zimmer erschrak Bettina aus der Schwelle. Lola trat ihr entgegen, sie, die sie doch eben suchte. Auch Lola fuhr zusammen; Bettina's Antlitz erschien ihr in dem Halbdunkel des Gemachs so gespenstisch und unheimlich; ihr Erschrecken machte sie nervös.
„Ich suchte Dich, Lola!"
„Du verzeihst, ich war eingeschlasen und erwachte eben erst in der Dämmerung!"
„Um so besser! Auch ich bin erschlafft durch diese Krankenpflege! Du sollst mich für einige Stunden ablösen; ich habe ihm bereits gesagt, daß ich Dich schicken werde. Es ist ja kein schwerer Dienst, den ich Won Dir begehre! Du sollst ihm unr halbstündlich die Arznei reichen, die Du auf dem Tisch an seinem Bette findest; selbst wenn er schlafen sollte, wirst Du ihn wecken; hörst Du?"
„Wenn ich dem Kranken willkommen bin!"
„Ich sagte Dir... ja!" Bettina stieß die Worte heftig und unwillig heraus. „Mein Gott, Alles verschwört sich gegen mich! Es drängt ihn und mich hinaus aus dieser Wohnung, wo ich der Verstorbenen immer zu begegnen fürchte, und er muß krank daliegen! . . . Gib ihm gleich von der Arznei! Ich war vor Müdigkeit und Nervenabspannung schon eingeschlafen; auch meine Kräfte erschöpfen sich ja! Eben deßhalb bat ich Dich, bei mir zu bleiben. . . Komm'; ich fühle ein Stechen und Brennen im Gehirn; ich werde wahnsinnig, wenn ich nicht ein Stündchen Ruhe habe!"
Willenlos ließ sich Lola von ihr sortziehen. Bettina hob leise die Portiöre des Krankenzimmers, deutete hinein und wandte sich wieder in die dunkle Zimmerflucht zurück.
Ein Schreckenslaut entrang sich ihrer Brust, als sie in ihr Schlafzimmer trat. Niemand hatte daran gedacht, dasselbe zu erhellen. Mit bebender Hand zündete sie die sämmtlichen Kerzen der beiden Kandelaber au. Ihr Blick fiel dabei in den Spiegel; mit einem Erschüttern des ganzen Körpers wandte sie sich ab und warf sich auf das Bett, das Gesicht in das Kissen drückend.
Hier lag sie Wohl eine Stunde, nicht schlummernd, immer das Antlitz bergend, fieberhaft erregt, zuweilen von Frost geschüttelt, ans das leiseste Geräusch in der lautlosen Stille der Wohnung lauschend, in der auch der Diener nur aus den Fußspitzen über die Korridore schritt; selbst das Knistern der Wachskerzen machte sie zusammenfahren und der Schall der nahen Kirchenuhr dröhnte ihr in das furchtsam pochende Herz.
Die Ueberanspannung der Nerven versetzte sie
endlich in einen Zustand vollständiger Lethargie. Ihre Glieder lagen ausgestreckt, regungslos auf dem Bette, ihre Brust athmete matt, das aufgelöste Haar deckte Nacken und Rücken, ihre Schläfe ruhte auf dem einen Arm, während der andere müde über den Rand des Bettes hing.
Sie schlummerte nicht, sie wachte nicht; die Bilder, die sich den geschlossenen Augen aufgedrängt, wüste, häßliche Bilder, hatten sich verflüchtigt; nichts drängte sich mehr in das Dämmern ihrer Seele, — da öffnete sich plötzlich und hastig die Thür; dumpfe, schnelle Tritte bewegten sich über den Teppich . . .
„Bettina!" weckte sie eine athemlos kreischende Stimme. „Bettina, erwache! Gott im Himmel, daß es von mir geschehen mußte! Ich that ja Alles pünktlich, wie Du mir besohlen, aber er ist todt, vor meinen Augen gab er den Geist auf! Wäre der Arzt uur eine Sekunde früher gekommen! Er trat eben ein, als er leblos Zusammengesunken... Mein Gott, mein Gott!"
Bettina hatte sich jäh ausgerichtet. Fast stumpfsinnig schaute sie aus Lola, die händeringend vor ihr stand; dann, ohne das über die Stirn gesunkene Haar zu entfernen, senkte sie dieselbe.
„Todt!" wiederholte sie dumpf und fast lautlos.
„O, und das Schlimmste noch!" rief Lola. „Der Arzt, als er in das Gesicht des Gestorbenen blickte, fuhr wild zurück; er schaute nach der Arznei auf dem Tische, nahm sie und fuhr mich an, ob ich ihm diese gereicht; wo die andere sei, die er verordnet, und wie oft ich ihm gereicht. . . ,Es sei ein Mord!' ries er, und barmherziger Himmel, ich that ja doch nur gewissenhaft, was Du mir befohlen!"
Lola sank kraftlos, verzweifelt, mit verhülltem Antlitz vor einem Sessel hin und brach in lautes Schluchzen aus.
„Ein Mord!" jammerte sie. „Und das dank' ich Dir!... O, mein Gott, muß denn Alles, selbst dieß Entsetzliche über mich kommen! Ich mag nicht mehr leben, ich will lieber todt sein, als dieß ans meiner Seele haben!"
Mit lautem Aufschreien sank sic, sich windend unter Selbstvorwürsen, neben dem Sessel zusammen, als eben die Thür heftig aufgerissen wurde.
Doktor Gundlach trat, von dein Diener gefolgt, in höchster Erregung herein und schaute mit von Zorn leuchtenden Augen auf die beiden Frauen.
„Ich fühle keine Verpflichtung, um Verzeihung für mein Eintreten zu bitten," ries er mit harter Stimme. „Ich verlange von Ihnen, gnädige Frau, Rechenschaft für einen Akt, der, milde gesagt, unverzeihliche Fahrlässigkeit, den: soeben ein Menschenleben zum Opfer gefallen; ich verlange sie nicht nur als alter Freund dieses Hauses, auch als Gerichtsarzt, dem die Pflicht obliegt, hievon Anzeige zu machen! Sie entfernten gegen meinen Wunsch den Pflegekundigen, den ich hieher beschied; Sie waren also für diese Pflege des Kranken verantwortlich und übergaben sie herzlos jener jungen, unerfahrenen Person da" — er deutete aus Lola — „von der mir der Diener hier eben sagte, sie sei schon verdächtig gewesen, der verstorbenen Baronin von Oppenstein eine bedeutende Summe aus dem Zimmer entwendet